Erkundigt euch, was Lottie am Sonntagnachmittag gemacht hat, hatte Daga gesagt, als sei das ganz einfach, als müssten sie dafür nicht mit zwei jungen Frauen sprechen, die nachmittags noch eine gesunde, schöne, arbeitsfähige Mutter und jetzt gar keine mehr hatten. Monika konnte sich nicht erinnern, dass die Arbeit ihr jemals so schwer gefallen wäre. Es war doch ein Routineeinsatz, aber gerade an diesem Tag kam er ihr fast unüberwindlich schwierig vor.
3
Der Verkehr in der Fleminggata war dichter geworden, weshalb sie mit dem Auto kaum schneller vorankamen, als wenn sie zu Fuß gegangen wären. Diese Langsamkeit schien das Schweigen, das zwischen Monika und Idriss herrschte, noch um einiges belastender zu machen. Am Ende sagte sie, vor allem, um überhaupt etwas zu sagen: »Ob die wohl wissen, dass wir kommen? Wir sollten vielleicht mal nachfragen.«
Sie wollte schon nach dem Telefon greifen, überlegte es sich dann jedoch anders. Wenn sie mit Mikael oder einem anderen Kollegen unterwegs gewesen wäre, hätte sie den gebeten, den Anruf zu erledigen. Und es gab keinen Grund, Idriss anders zu behandeln.
»Mach du das doch bitte.«
Jetzt würde es sich ja herausstellen, ob er Befehle von einer Frau entgegennehmen könnte. Monika wusste nicht genau, was sie tun würde, wenn er sich weigerte, aber diese Entscheidung wurde ihr abgenommen, da er einfach nickte und auf der Wache anrief, wobei er wie ein ganz normaler Kollege klang. Sie hörte trotzdem aufmerksam zu, während sie Meter um Meter weiterschlichen. Sie fragte sich, ob sie vielleicht lächeln und aufmunternd nicken sollte ‒ aber das könnte er ja auch als Beleidigung auffassen ‒ oder ob sie überhaupt keine Reaktion zeigen und damit vielleicht unfreundlich wirken könnte. Am Ende fühlte sie sich dermaßen unbehaglich, dass sie sich fragte, wie sie wohl von außen wirkte: wie eine kleine bleiche Frau mit unbeholfener Körpersprache, die verkrampft am Steuer saß, ein passiver Mensch, der aus einer quälenden Situation einfach keinen Ausweg fand. Sie warf einen Rat suchenden Blick in den Rückspiegel und blickte in ihre wie immer neutral wirkenden Augen, die weder blau noch wirklich grau waren, sie sah ihr wie immer ausdrucksloses Gesicht und dieselben öden blonden, halblangen Haare. Dieser Anblick konnte wirklich nicht zur Verbesserung der Lage beitragen.
Sie nahm an, dass sie Mitleid mit ihm haben und deshalb besonders freundlich sein müsste ‒ sie müsste Mitleid mit ihm haben, weil er dunkelbraune Augen hatte, keine blauen, weil er nicht in Schweden geboren war und weil seine Eltern aus dem Irak stammten. Doch sie hatte kein Mitleid mit ihm, wer ihr hier Leid tat, war sie selbst, und deshalb packte sie das Lenkrad mit noch festerem Griff. Sie hoffte wider besseres Wissen, dass die Kollegen von der Wache sie zurückrufen und sagen würden, es sei alles ein Irrtum gewesen, die Ermittlungen seien abgeblasen. Aber nein, sie mussten sich anhören, dass niemand auf die Idee gekommen war, die Töchter zu informieren. Doch das sollte aber sofort geschehen, damit sie nicht unerwartet hereinplatzten. Wie gut, dass mir das eingefallen ist, dachte sie.
Idriss sprach ihre Gedanken laut aus.
»Danke. Es wäre sicher nicht so gut, unangemeldet dort aufzutauchen.«
Danke? Bedankte er sich bei ihr, weil sie ihre Arbeit tat? Wollte er hier entscheiden, was gut oder schlecht war, richtig oder falsch? Glaubte er, er könne ihren Einsatz bewerten und sie dann nach Lust und Laune belohnen? Oder wollte er vielleicht nur höflich sein oder sich vielleicht sogar einschmeicheln? Sie wusste nicht, was sie glauben sollte, deshalb konnte sie sich auch für keine Reaktion entscheiden und nickte einfach nur stumm.
Dann schwiegen sie wieder.
Der Weihnachtsverkehr schien in der Hamngata, wo eine dicht gedrängte Menschenmenge langsam durch die Straßen und über die Zebrastreifen kroch, seinen Höhepunkt zu erreichen. Menschen, die sonst bei Rot immer stehen blieben, ließen sich nun von der Masse leiten und wurden in einem kompakten Strom vorangetrieben, der nicht auf den Versuch der Autos achtete, sich einen Weg zu bahnen. Die Fußgänger betrachteten die Autofahrer mit freundlicher Nachsicht und einer gewissen Schadenfreude ‒ heute sind wir an der Reihe, heute haben wir die Übermacht, heute musst du einfach warten! Die Autofahrer schienen die Lage zu akzeptieren, sie hupten nicht und drängelten auch nicht.
Das Schweigen steigerte Monikas Anspannung noch. Sie brauchte ohnehin immer lange, um sich an neue Menschen zu gewöhnen, und Idriss gegenüber fühlte sie sich so unsicher, wie ihr das schon lange nicht mehr passiert war. Weshalb sie sich dummerweise noch mehr über ihn ärgerte. Es half auch nichts, dass sie einsah, wie unsinnig sie sich verhielt.
Endlich lag das ärgste Gedränge hinter ihnen. Sie fuhr durch den Strandväg und versuchte durch das Betrachten der Häuser auf andere Gedanken zu kommen.
Östermalm war der Teil der Innenstadt, der sie am wenigsten interessierte. Sie fand die Straßen zu breit und zu leer, die Häuser zu aufdringlich, die Mehrzahl der Verbrechen zu ausgefeilt. Sie konnte kaum verstehen und noch weniger verzeihen, dass Gewerkschaftsbonzen und Künstler plötzlich, wenn sie zu Geld kamen, in eine so genannte bezaubernde Jugendstilwohnung in Östermalm zogen, als weise ihr bisheriges Wohnviertel irgendeinen Makel auf, weshalb man von dort fortzog, sobald man es sich leisten konnte. Monika selbst wäre natürlich gern aus ihrem Vorort nach Kungsholmen gezogen, aber sie empfand das nicht als illoyal, da sie Zeit genug gehabt hatte, um diesen Stadtteil sehr genau kennen zu lernen.
Sie fand den Weg zur Storgata ohne Probleme. Nummer 12 erwies sich als prachtvolles, ansprechend hell gehaltenes Eckhaus, von dem sie trotz seiner Lage einfach hingerissen war, und obwohl es von allem ein wenig zu viel hatte, wie eine Zwölfjährige, die eben anfängt, sich zu schminken.
Sie stellten den Wagen vor dem 7-Eleven-Kiosk gegenüber ab. Wäre Mikael dagewesen, hätte Monika gesagt, dass bald jeder Winkel in der Stadt einen rund um die Uhr geöffneten Kiosk haben würde, wo man Kaffee, Schnellmahlzeiten und Grundnahrungsmittel zu einem übertriebenen Preis kaufen konnte, jetzt aber fürchtete sie, dass sie sich übellaunig und quengelig anhören könnte, und deshalb schwieg sie auch weiterhin.
Die Haustür war nicht ganz so reich verziert wie das übrige Haus. Es war eine solide Tür aus dunklem Holz mit großen, geschliffenen Glasfenstern. An der Wand gegenüber war eine kleine Tafel angebracht, die die Gäste darüber informierte, dass das Haus in den Jahren 1905 bis 1906 errichtet und vom Architekten Sam Kjellberg entworfen worden war. Diesen Namen kannte Monika, und sie fragte sich, ob Sam noch weitere Häuser hinterlassen hatte, die so strikt gegen das Gebot, nur ja nie aufzufallen, verstießen wie dieses hier.
Durch die Glasscheiben war eine leere und einfarbige Eingangshalle mit zwei weiteren Türen zu sehen, die wie die elegantere Antwort auf die Haustür wirkten. Sie gaben den Türcode ein, durchquerten die Eingangshalle und erreichten einen der scheußlichsten Fahrstühle, die Monika seit langem gesehen hatte. Ein grüner Blechkasten, der offenbar als Notlösung während einer akuten Fahrstuhlkrise aufgebaut und niemals wieder ersetzt worden war. Monikas Laune wurde noch schlechter. War auch das hier ein Haus, das in den siebziger Jahren politisch unkorrekt gewesen war und sich deshalb diesen Fahrstuhl zugelegt hatte? Waren wohl gleichzeitig Kachelöfen, geschnitzte Verzierungen, Parkett und Stuck herausgerissen worden?
Der Fahrstuhl war von innen ebenso deprimierend wie von außen, brachte sie jedoch ohne zu murren in den vierten Stock hinauf.
Die Tür zu Lotties Wohnung bestand aus demselben dunklen Holz wie die Haustür und war mit zwei selbst gemachten Namensschildern sowie einem aus Messing dekoriert, auf dem einfach nur »Hagman« stand. Auf dem einen der beiden Schilder stand »Hier wohnt Pernilla«, das andere zeigte eine rote und rosa Collage zum Thema Dahlien. Ein Stück weiter unten war mit Klebestreifen eine Visitenkarte angebracht, auf der der Name Sara Gottman geschrieben stand.
Monika fühlte sich ein wenig besser. Sie hatte immer schon gern die Wohnungen anderer Menschen besucht, wo sie häufig das Gefühl hatte, die Gedanken der Menschen vor sich sehen zu können ‒ wer sie sein wollten, wie sie sich selber sahen.
Aber das war auch der einzige Pluspunkt. An Minuspunkten dagegen hatte sie eine reiche Auswahl. Menschen zu treffen, die