Sie drückte auf den Klingelknopf.
Jetzt würde sie auf jeden Fall erfahren, wie Lottie ihre Umgebung gestaltet hatte.
Eine bleiche junge Frau mit verweinten Augen trat zur Seite, um sie eintreten zu lassen. Warme Luft, die nach Duftölen, Tee, Toast und Parfüm roch, strömte ihnen entgegen. Die junge Frau hatte sich in einen viel zu großen Morgenrock gehüllt und erwiderte ihre Blicke nicht, schien sich auf diese Weise gegen ihre unerwünschte Anwesenheit schützen zu wollen. Sie erschauderte ein wenig, vielleicht wegen der Kälte, die mit den Gästen in die Wohnung eindrang.
Die Diele hätte als geräumige Einzimmerwohnung genutzt werden können ‒ das Bett hätte bequem an die linke Wand gestellt werden können, rechts eine Kochnische, und trotzdem wäre noch immer genug Platz für ein kleines Sofa, einen Tisch und zwei Sessel gewesen. Die Diele war jedoch nicht als Wohnung eingerichtet, sondern eben als Diele, als Übergang zwischen der Außenwelt und dem Inneren der Wohnung, und bot ausreichend Platz für die große Menge an Mänteln, die hier aufbewahrt wurden. Und das alles ließ auf die Ausmaße der restlichen Wohnung schließen.
»Legen Sie ab.« Die Stimme klang leise und ausdruckslos. »Ich bin Pernilla. Die jüngste Tochter.«
Monika wollte sich und Idriss vorstellen, doch Pernilla hatte ihnen schon den Rücken gekehrt. Sie führte die Gäste durch einen Bogengang in einen für Monikas Maßstäbe riesigen Raum, in dem es von Möbeln, Katzen und Menschen nur so zu wimmeln schien.
»Da sind sie.« Mit diesen Worten schien Pernilla ihre Pflichten als erfüllt zu betrachten. Sie lief zwischen Stühlen, Hockern, niedrigen Tischen und hohen Kissen umher, bevor sie sich auf die Ecke eines großen roten, abgenutzten Ledersofas sinken ließ.
Bei genauerem Hinsehen stellte es sich heraus, dass sich nur drei weitere Personen in dem Zimmer aufhielten, zwei junge Frauen und ein etwas älterer Mann. Dazu kamen eine lebendige Katze und einige Dutzend aus Ton oder Stoff. Der Eindruck von Gewimmel entstand dadurch, dass die Wände von Plakaten, Portraits und Fotos bedeckt waren, die allesamt Menschen zeigten. Auf dem Couchtisch und dem Flügel standen zahlreiche gerahmte Fotos, zwei Büsten, eine aus Gips und eine aus Ton, flankierten den Bogengang. Die eine stellte vermutlich Lottie im Alter von fünfundzwanzig dar. Es war eines der ungewöhnlichsten und schönsten Zimmer, die Lottie je gesehen hatte.
Die eine Frau erhob sich und kam ihnen entgegen. Ihre Kleidung sorgte dafür, dass man zuerst ihren Körper ansah ‒ groß, durchtrainiert und nahezu ohne Hüften oder Brüste. Als Nächstes fielen die Haare mit ihrem modischen Schnitt und die schmale schwarze Brille mit den dicken Bügeln auf.
»Hallo. Jenny Hagman. Könnten Sie uns sagen, was eigentlich los ist? Zuerst stehen Sie um sechs Uhr morgens vor der Tür und behaupten, meine Mutter sei aller Wahrscheinlichkeit nach schnell und schmerzlos gestorben, dann ruft jemand an und sagt, wir müssten einige Fragen beantworten, und gleich darauf kommen dann Sie.«
Plötzlich erkannte Monika, wen sie vor sich hatte. Jenny Hagman entwarf kühle und nüchterne Kleidungsstücke für kühle und nüchterne Zwanzigjährige, und zwar mit großem Erfolg.
Jetzt war es wohl angebracht, sich endlich vorzustellen.
»Hallo. Polizeiinspektorin Monika Pedersen und Polizeiinspektor Idriss Al-Khalili von der Kriminalpolizei City.«
Monika hasste ihren Titel. Sie wollte Kriminalkommissarin sein, Polizeiinspektorin klang wie etwas ganz anderes, wie Ladenkontrolleurin oder Warenprüferin. Dieser Titel ließ sie kleiner werden. Sie war umklassifiziert worden, ohne dass jemand sie gefragt hätte, was ihr wie eine halbe Kündigung erschien.
Jenny starrte sie noch immer an, deshalb fuhr Monika fort: »Ja, es tut mir Leid, dass wir Sie gerade jetzt stören müssen, wo Sie natürlich in Ruhe gelassen werden wollen, und wir möchten Ihnen unser Beileid aussprechen. Aber wir sind gekommen, um Ihnen zu helfen.«
Sie berichtete kurz über die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung und sagte, dass sie mehr Informationen über Lottie brauchte. Die Sache mit dem Auge ließ sie unerwähnt.
»Sie wissen also nicht, was passiert ist«, sagte Jenny herausfordernd.
»Wir wissen, dass ein einfacher Sturz höchstwahrscheinlich nicht zu diesen Verletzungen geführt haben könnte. Deshalb sind wir hier.«
»Unwahrscheinliche Dinge können aber trotzdem passieren. Hätten Sie nicht warten können, bis Sie sicher sind, falls Sie das überhaupt jemals sein werden? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand, der sie gekannt hat, sie ermordet haben könnte, und wenn es jemand war, der sie nicht kannte, dann können wir Ihnen auch nichts sagen, das weiterhilft.«
Kühle Logik, und interessant. Sie hatte nicht das Übliche gesagt, nämlich, dass niemand Lottie etwas angetan haben könnte, dass sie der liebste Mensch auf der ganzen Welt gewesen sei.
Monika fragte sich, wie sie hier irgendeine Form von Zusammenarbeit entwickeln sollte. Die kleine Menschengruppe in diesem Zimmer hatte sich gegen die Eindringlinge zusammengeschlossen und kam ihr alles andere als hilfsbereit vor. Ein misstrauischeres Gemüt hätte vielleicht angenommen, dass sie etwas zu verbergen hatten, aber Monika konnte sich noch allerlei andere Gründe vorstellen, aus denen sie nichts mit ihr zu tun haben wollten.
Jenny stand noch immer vor Monika, und dieses Mal ergriff Idriss die Initiative ‒ er ging ganz einfach um sie herum und begrüßte die übrigen Anwesenden. Er reichte zuerst Pernilla die Hand, danach dem kräftigen Mann von etwa Mitte dreißig, der auf der anderen Seite des Sofas saß und sich als Johan vorstellte, dann wandte er sich der schmächtigen dunkelhaarigen jungen Frau mit den violetten Augen zu, die unter einer Decke auf einem breiten schwarzweißgestreiften Hocker mit krummen Beinen aus Weißmetall mehr lag als saß. Sie hieß Dahlia, wie das Schild an der Tür schon hatte vermuten lassen. Monika folgte Idriss und ließ sich rasch und ungebeten in einen zum Sofa passenden Sessel sinken. Die Katze, die auf der Armlehne gesessen hatte, sprang mit einer fließenden, kurzen Bewegung auf den Boden. Sie war klein und kohlschwarz, und Monika hielt sie für irgendeine Rassekatze, da sie aussah wie die Antwort der Katzenwelt auf ein Vollblutpferd.
Jenny stand noch immer schräg hinter Monika, doch Monika beschloss, sich nicht um diese stumme Aufforderung, so schnell wie möglich wieder zu verschwinden, zu kümmern.
Sie wandte sich Dahlia zu, da sie nicht davon ausgehen konnte, dass Lotties Töchter Antworten liefern würden.
»Wir brauchen ein paar Hintergrundinformationen. Sie wohnen hier, wenn ich das richtig verstanden habe.«
»Ja. Seit einem Jahr. Damals habe ich die Theaterschule verlassen und zugleich meine Wohnung verloren ‒ und da hat Lottie mir angeboten, hier ein Zimmer zu mieten. Sie hat manchmal an der Schule unterrichtet, und so habe ich sie kennen gelernt.« Dahlias Augen füllten sich mit Tränen. »Sie war ein großzügiger Mensch, niemand hätte ihr etwas angetan, da können Sie sicher sein. Ich kann nicht begreifen, dass sie nicht mehr da ist.« Jetzt strömten ihr die Tränen über die Wangen. »Wir haben zusammen gefrühstückt, das machen wir nicht immer, hier essen alle, wenn sie Hunger haben. Wir sind beide erst spät aufgestanden, so gegen zwölf. Sie hatte nachmittags eine Vorstellung, weil Sonntag war. Sie war so wie immer ‒ las die Zeitung, plauderte ein wenig. Ich bin sicher, dass sie keine Ahnung davon hatte, dass das ihr letztes Frühstück war, das hätte ich gemerkt.«
»Natürlich hatte sie keine Ahnung davon, dass das ihr letztes Frühstück war, kein Mensch glaubt ja wohl, dass sie sich selber umgebracht hat«, warf Jenny gereizt ein.
Dahlia setzte sich auf und zog die Decke über ihren schmalen Schultern zusammen.
»Ich verstehe dich nicht, Jenny. Die Polizei ist hier. Sie arbeiten für dich, aber du bist ihnen nicht im Geringsten behilflich. Setz dich und benimm dich anständig. Lottie zuliebe, wenn schon aus keinem anderen Grund.«
Aber