Der erste „Wandervogel“
Als erster „Wandervogel“ (und dies nicht immer freiwillig) darf Camillo (standesamtlich eigentlich: Camill) Ugi gelten, 15-mal international eingesetzt und dabei neunmal Kapitän der DFB-Elf. Ugi war ein Immigrantenkind eines aus Baden stammenden Ehepaars, der Vater Italiener, die Mutter Deutsche. Camillo Ugi wurde in Leipzig geboren, dort begann er auch mit dem Fußballspiel. Im April 1905 ging der Elektromechaniker an Bord eines Dampfschiffs und am 3. Mai im brasilianischen Sao Paulo an Land. Dorthin gelockt hatte ihn der frühere hanseatische Kaufmann Hans Nobiling, in Hamburg Mitglied des HSV-Vorläufers SC Germania und in Sao Paulo 1899 Mitgründer des dortigen SC Germania. Eine versprochene Arbeitsstelle aber konnte Ugi nicht vorfinden, des Portugiesischen war er nicht mächtig, und so machte sich der Sachse wieder auf die Heimreise.
Des Militärdienstes wegen schloss er sich einem Dresdner Verein an, war dann bei Stade Hélvetique Marseille in Frankreich und beim FSV Frankfurt engagiert, ehe er seine Laufbahn in Breslau, Schlesien, beendete. Camillo Ugi, der es später bei einem Leipziger Kinematographenund Filmhersteller zum Betriebsleiter brachte, arbeitete bis 1954 im VEB Medizintechnik in Leipzig und verstarb 1970 im Alter von 85 Jahren in Markkleeberg.
Der doppelte Nationalspieler
Auslandsaufenthalte von Fußballern und sogar die Auswanderung waren in jener Zeit gang und gäbe. Der Nationalspieler Marius „Bubi“ Hiller III (1892-1964) – ein Vetter von Arthur Hiller II, dem ersten Spielführer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft – wechselte vom 1. FC Pforzheim wegen der mit seiner Heimatstadt korrespondierenden Schmuckund Uhrenindustrie ins schweizerische La-Chaux-de-Fonds, wo auch der spätere 1.-FCP-Nationalspieler Fritz Wetzel auflief. Hiller III wanderte nach dem Militärdienst am 11. Oktober 1913 aus beruflichen Gründen nach Argentinien aus, wurde dort zweimal in die Nationalmannschaft berufen und war damit der erste DFB-Internationale, der für zwei Nationalteams auflief.
Emil Oberle, Nationalspieler aus der Meistermannschaft von Phönix Karlsruhe, war beruflich beim Bau der Bagdadbahn engagiert, später Direktor der Deutschen Bank in Istanbul und dort für Galatasaray aktiv. Otto Reiser, ein weiterer Phönix-Akteur, hatte bereits 1904/05 bei WAC Wien gespielt.
Der „Fußball-Exporteur“
Jene Phönix-Meisterelf 1909 wurde von Mittelläufer Artur Beier angeführt, der bereits als Zwölfjähriger für die von Fußballpionier Bensemann initiierten Karlsruher Kickers aufgelaufen war und auch im „Ur-Länderspiel“ am 28.11.1899 zum Aufgebot gehörte, als es in Karlsruhe gegen England 0:7 vor angeblich 5.000 Zuschauern ausging (vom KFV spielten auf dem Engländerplatz Wilhelm Langer, Schuon, Fritz Langer, Rickmers, Zinser, Link). Ebenso wie sein Mentor Bensemann entwickelte sich auch Beier zum „Fußball-Exporteur“. In Karlsruhe gründete er 1896 den F.-K. Phönix mit, den er zwei Jahre darauf bereits als Ehrenmitglied (!) aus beruflichen Gründen verließ. Weil man beim Cannstatter F.K. in Stuttgart den Rugby-Sport bevorzugte, rief Beier 1899 mit anderen die Stuttgarter Kickers ins Leben und amtierte auch gleich als deren erster Trainer. Beruflich hoch qualifiziert wie viele andere Akteure der frühen Fußballgeneration, ließ sich der Pädagoge in Kiel nieder und gründete dort den Kieler FV mit, einen Vorläufer des heutigen KSV Holstein Kiel. Seinem Beruf geschuldet war auch die Station Racingclub de Calais in Frankreich. Zurück in Karlsruhe, kaufte er gemeinsam mit dem Mitglied Ferdinand Lang für den Phönix ein Gelände in Neureut an, auf dem 1906 Sportplatz und Klubhaus erbaut wurden. Der Pädagogik-Professor kam im Februar 1917 im Ersten Weltkrieg ums Leben. Sein Bildnis in Farbe findet man heute auf der Website www.ksc.de. Geschaffen hat es sein ehemaliger Mitspieler Emil Firnrohr (1881-1961), zu Zeiten des Titelgewinns Student an der Kunstakademie Karlsruhe. In der Endrunde 1909 wurde er nicht eingesetzt, wohl aber im Frühjahr darauf gegen den KFV. Ein Foto vom Duell Hirsch gegen Firnrohr wurde für den Titel von „Fussball und Olympischer Sport“ aus München-Schwabing ausgewählt: Der KFVer sprintet mit ausgestreckter Zunge Richtung Tor, der Verteidiger von Phönix-Alemannia versucht ihn daran zu hindern. Emil Firnrohr galt später als „Porträtmaler der vornehmen Karlsruher Gesellschaft“.
Ein vergeblicher Appell
In die Reihe der polyglotten Kicker gehört selbstverständlich auch Dr. Ivo Schricker (1877-1962), der später dem verfolgten Julius Hirsch aus langjähriger freundschaftlicher Verbundenheit versuchen wird zu helfen. Auch bot er 1933 dem aus Deutschland vertriebenen „kicker“-Herausgeber Walther Bensemann in Zürich eine Bleibe. Schricker kannte Bensemann bereits aus Straßburg, in Karlsruhe hatten beide zusammen gewirkt. Nach seiner Rückkehr aus Ägypten ernannte ihn der KFV zum Ehrenspielwart. 1927 Vizepräsident der FIFA, amtierte Dr. Ivo Schricker von 1932 bis 1950 als erster hauptamtlicher FIFA-Generalsekretär. Auch von Zürich aus ließ er die Beziehungen zu Karlsruhe nie ruhen: Den KFV-Meisterspieler Fritz Tscherter und dessen Frau stattete er anlässlich der WM 1954 in der Schweiz mit Eintrittskarten aus.
Zum NS-Regime äußerte sich Dr. Schricker in einem Brief vom 30.8.45 an den späteren DFB-Präsidenten Bauwens eindeutig: „es ist klar (…), dass a l l e Leute, die eine braune oder schwarze Jacke getragen haben, von j e d e r Beteiligung am Aufbau und an der Verwaltung des Deutschen Sports auf immer ausgeschlossen werden“ (Anm.: Hervorhebungen von I.S.).
Dies blieb ein frommer Wunsch des Mannes aus Zürich.
„Mäxle“ nimmt Reißaus
Bestens bekannt war Julius Hirsch auch mit Max Breunig (1888-1961), der aus Stein bei Pforzheim stammte und in Karlsruhe als Gymnasiast ebenfalls auf dem „Engländerplätzle“ gespielt hatte. An jenem Tag, an dem Hirsch 1909 in der 1. Mannschaft des KFV debütierte, stellte Trainer Townley erstmals Breunig auf die Mittelläufer-Position. Er wurde „der kolossalste Mittelläufer Deutschlands und des Kontinents überhaupt“ – dies die Ansicht von Hugo Meisl, dem Schöpfer des legendären österreichischen „Wunderteams“.
Eigenartigerweise trug der 1,94 Meter große Hüne Breunig den Beinamen „Mäxle“. Die Legende sagt, seine Schüsse hätten Tornetze zerrissen. Der „kicker“ wird den neunmaligen Nationalspieler 1941 in Farbe aufs Titelbild seiner Broschüre „Mittelläufer spielen auf “ setzen: „Nie hat ein schwerer, großer Mann den Ball so rasch, kurz, ja knapp geführt wie er. (…) Beine wie Baumstämme (…). Solche Schüsse wie von Breunig hat’s nimmer gegeben!“ Bereits 1920 hatte ihm „kicker“-Herausgeber Bensemann das Titelbild der Ausgabe Nr. 15 gegönnt: „Breunig, der deutsche Fußballkönig der Vorkriegszeit“.
Seine Schüsse zerrissen Tornetze: „Mäxle“ Breunig, „der kolossalste Mittelläufer des Kontinents“.
Gleichfalls charakteristisch für die Generation des späteren Schulund Fußballlehrers Breunig war, dass er sich als Allroundsportler betätigte. Man schlage einmal die Bände der „Illustrierten Sportzeitung“ aus München nach, die damals gerne körperbewusste, athletische Mannsbilder abbildete. Neben stämmigen Gastwirten, die als Ringkämpfer hervortraten, sah man dort auch Modelle, die heute der Sparte Bodybuilder zuzuordnen wären. 1909 posierte der 19-jährige Breunig in der Badehose für den Fotografen, im Jahr darauf setzte er sich als (rückwärtiger) Akt in Szene: „Er übt nach dem Lehrbuch der Kraft- und Muskelausbildung“, wurde mitgeteilt. Unterricht im Ringen nahm der Fußballer und Leichtathlet damals bei Germania Karlsruhe.
1912 war Max Breunig gemeinsam mit Karlsruher Mannschaftskameraden wie Hirsch und Fuchs bei den Olympischen Spielen in Stockholm und musste nach der Rückkehr eine Entscheidung treffen: Sein Verein bat zum Ausflug mit Tanz, doch der Nationalspieler mochte lieber an einem Leichtathletik-Sportfest in den Wettbewerben