In „Neue Sportwoche“ 1913 stellt Georg P. Blaschke fest: „Die deutsche Ländermannschaft besitzt wohl gute Spieler, aber kein Zusammenspiel.“ Seine Lösung: zwei Nationalmannschaften bilden, eine aus Süd und West, die andere aus Nord, Berlin und Mitteldeutschland.
„Einer der besten Fußballspieler Deutschlands“
1913 gegen Belgien erfolgt eine weitere Nominierung von Hirsch. Der eigentlich vorgesehene Steinhauer vom Duisburger SV, der nie ein Länderspiel bestreiten wird, bekommt als Soldat nämlich keinen Auslandsurlaub. Wie erwähnt, gehen die Fußballer von damals einem Beruf nach, und die entsprechende Situation beschreibt ein Brief vom 14. November 1913 von DFB-Geschäftsführer Walter Sanss aus Dortmund, jetzt Neuer Graben 75, an den Arbeitgeber von Hirsch, die Gebrüder Bing in Nürnberg:
„Sehr geehrte Herren!
Es dürfte Ihnen nicht unbekannt sein, dass Ihr Angestellter Julius Hirsch einer der besten Fußballspieler Deutschlands ist. Deswegen hat unser technischer Ausschuss auch beschlossen, ihn für diejenige Mannschaft aufzustellen, die am 23. ds. Mts. in Antwerpen gegen Belgien spielt. Herr Hirsch hat mir gelegentlich seines letzten Besuchs in Nürnberg mitgeteilt, dass er wohl keinen Urlaub bekommen könne, da in Ihrem Geschäft gegenwärtig Hochsaison sei. Deshalb möchte er auch nicht um Urlaub fragen. Ich habe daraufhin alles versucht, um einen anderen Spieler als Hirsch einzustellen, doch haben wir gleichwertigen Ersatz nicht finden können. Die Einstellung einer schwächeren Kraft würde unsere Mannschaft so schwächen, dass wir nicht mit Ehren bestehen könnten.
Ich erlaube mir daher die ergebene Bitte auszusprechen, Herrn Julius Hirsch für den Samstag und die ersten Vormittagstunden des Montag für die Reise nach Antwerpen zu beurlauben. Der junge Mann wird gewiss das Versäumte durch Fleiß nachholen. Uns würde durch die Mitwirkung des Hirsch ein großer Vorteil erwachsen, ganz abgesehen davon, dass uns eine Menge Arbeit für die Einstellung eines anderen Spielers erspart bliebe.
Herr Hirsch weiß von diesem Schreiben nichts. Ich möchte Sie jedoch bitten, sich recht bald zu entschließen und Herrn Hirsch zu beauftragen, mir das Ergebnis seines Gesuchs telegraphisch mitzuteilen.
In der Hoffnung, keine Fehlbitte getan zu haben, empfehle ich mich Ihnen mit vorzüglicher Hochachtung Walter Sanss, Bücher-Revisor, Geschäftsführer des D.F.B.“.
Hirsch bekommt von seinem Arbeitgeber frei und stellt in Antwerpen fest, auch wenn es ihn selbst nicht betrifft: Ruhm ist vergänglich. Beim 2:6 gegen Belgien vor 8.000 im Nebel ist der zuvor so oft gefeierte Mittelläufer Breunig der Buhmann der deutschen Sportpresse. Aus beruflichen Gründen trifft Breunig nach zwölfstündiger Bahnreise durch die Nacht erst 120 Minuten vor Spielbeginn in Antwerpen ein. Gesagt hat er das vorher niemandem. Der schwere Mann hat auf dem nach tagelangem Regen völlig aufgeweichten Platz in Antwerpen ohnehin Probleme. Die „Neue Sportwoche“ kommentiert: „Ausschlaggebend war das totale Versagen von Breunig. Wenn jemand nicht rechtzeitig zur Stelle sein kann, soll man lieber einen schwächeren Mann nehmen.“ Auch Hirsch kommt in der „Norddeutschen Sportzeitung“ nicht gut weg: „Er hat seinen Höhepunkt ohne Zweifel hinter sich; seine frühere Durchschlagskraft, seine Schussfertigkeit sind dahin – sein Eifer nach Halbzeit anzuerkennen.“ Ganz anders urteilt „Der Fußball“ aus München: „Hirsch war im Felde im Zuspiel wie das ganze Innentrio glänzend!“
Die sportliche Bilanz der deutschen Nationalmannschaft bis 1914 blieb im Vergleich zu kommenden Zeiten bescheiden, was das Können einzelner Akteure nicht schmälert. Zu groß war die Fluktuation im Team. Die „Elf der Besten“ schien manches Mal nach dem Zufallsprinzip zusammengestellt. Im Punktspielbetrieb herrschte infolge der damals aufgrund der Verkehrsverhältnisse und der Arbeitstätigkeit der Spieler verständlichen „Kleinstaaterei“ und Regionalisierung oftmals Unterforderung für die besten Akteure. Zudem gab es auf DFB-Ebene keine systematische Schulung der Spieler, keine Nachwuchsförderung, keinen festen Trainer und auch keine Trainingslager.
Nur gegen die Schweiz (4 Siege, 0 Unentschieden, 2 Niederlagen) und gegen Russland (1 Sieg) fiel die Bilanz positiv aus, ausgeglichen gegen Schweden (1-0-1). Erfolglos blieb die Nationalelf gegen Holland (0-2-3), Ungarn (0-2-2), England (0-1-3), Dänemark (0-0-2) sowie gegen Österreich und Belgien (jeweils 0-0-3). In der Gesamtbilanz resultieren aus 30 Länderspielen von 1908 bis 1914 sechs Erfolge, fünf Remis und 19 Niederlagen.
Das letzte deutsche Fußball-Länderspiel der Vorkriegszeit fand am 5. April 1914 in Amsterdam gegen die Niederlande statt und endete 4:4. Der wuchtige Mittelstürmer Otto „Tull“ Harder vom HSV-Vorläufer Hamburger FC 88 stand mit seinen 22 Jahren für eine neue Fußballer-Generation. Die aber wird infolge des Ersten Weltkriegs erst 1920 mit Torwart Stuhlfauth, Mittelläufer Kalb und anderen in der Nationalelf debütieren können.
KAPITEL 6
Frühe Fußballheroen \\\ Der Krieg als Karriereende \\\ Der FIFA-Mann \\\ Und einer wurde Bürgermeister
2010 veröffentlichte der „kicker“ aus Anlass seines 90-jährigen Bestehens ein Sonderheft, das sich dem deutschen Fußball seit 1920 widmete, also seit dem Gründungsjahr der Zeitschrift. Im Internet durfte man aus diesem Anlass abstimmen, welche Fußballer in die Hall of Fame kommen sollten. Von den Nationalspielern der Jahre 1908 bis 1914 stand aufgrund der ausgewählten Zeitmarke allerdings keiner zur Auswahl.
„Wer kennt noch Heiner Stuhlfauth“ lautete – ohne Fragezeichen – 1973 der Titel eines Buches von Joachim Seyppel bei Piper. Ja, wer kennt heute noch Heiner Stuhlfauth, über das Nürnberger Cluberer-Land hinaus? 21-mal war er immerhin Nationaltorwart, von 1920 bis 1930.
„Erst“ etwas mehr als 80 Jahre ist das her, aber wem wollte man jetzt verdenken, dass erst recht die Fußballheroen aus der Generation Julius Hirsch, also der ganz frühen Jahre noch vor Stuhlfauth, heute fast gänzlich vergessen sind? Allenfalls im lokalen Bereich tauchen sie noch auf, als Namensgeber von Stadien wie für die Adolf-Jäger-Kampfbahn von Altona 93 in Hamburg-Bahrenfeld, und wie Camillo Ugi im sächsischen Markkleeberg.
Dabei besaßen diese Spieler noch bis lange Jahre nach dem Ersten Weltkrieg einen beachtlichen Bekanntheitsgrad, auch „Juller“ Hirsch. Und er hat sie natürlich alle gekannt, sah man sich doch regelmäßig im jeweiligen Verein und in Ligaspielen, oft auch in der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft, im Wettbewerb um den Kronprinzenpokal und in der Nationalmannschaft.
„Der intelligenteste Fußball-Meister“
Diese erste deutsche Fußballgeneration stellten Schüler, Studenten und Akademiker, die überwiegend der Mittel- und Oberschicht, also dem Bür gertum, entstammten. Beim Deutschen Meister 1907, dem Freiburger FC, besaßen, wie an anderer Stelle berichtet, gleich fünf Akteure den Doktor-Titel. Womit der Titel „Intelligentester Deutscher Fußball-Meister aller Zeiten“ gesichert wäre! Vier FFCler wurden Professoren, ebenso wie Karl Wegele, 15-maliger Nationalspieler von Phönix Karlsruhe und Ordinarius für Mathematik und Chemie am Karlsruher Kant-Gymnasium. Die „Süddeutsche Sportzeitung“ 1907 (3. Jahrgang) aus der Amalienstr. 55 in Karlsruhe meldete in ihrer Nr. 7, Wegele, Schwarze und Zinser vom KFV seien auch Mitglieder der Fußballmannschaft der örtlichen Technischen Hochschule.
Ausschlaggebend für das Engagement dieser Fußballpioniere war die Sympathie für den neuen Sport, wobei Großbritannien bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs eine Vorbildfunktion besaß. Es wiederholt sich eben manches, diesmal mit dem Ausgangspunkt USA: American Football, Baseball, Softball, Beach Volleyball, Surfen etc. sind heute allesamt nach Deutschland exportierte Mode-Sportarten.
Aus der Arbeiterschaft kamen die damaligen Fußballer nicht. Erst als nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs die Arbeitszeiten verkürzt wurden, war es auch Beschäftigten aus