Im Abschnitt Phänomene des Verstehens in der Lehrer*innenbildung stellt Silke Pfeifer das Ausstellungs- und Vermittlungsformat Staging Knowledge in seiner Wirkmächtigkeit für die Anwendung in der Lehrer*innenbildung vor. Anja Thielmann erörtert Potential und Grenzen der Vignetten- und Anekdotenforschung für Erfahrungen des Verstehens oder Nicht-Verstehens im Bereich der Berufsbildung. Zur Untersuchung pädagogischer und didaktischer Phänomene an der Universität von West-Mazedonien verknüpfen Vassiliki Papadopoulou und Vasileios Symeonidis die Critical Incident Technique (CIT) mit der phänomenologischen Vignettenforschung. Mishela Ivanova untersucht die Wirkmächtigkeit lernseits orientierter Fallstudien für die Annäherung an studentische Verstehensprozesse.
Der vierte und abschließende Teil des Buches stellt Interdisziplinäre Perspektiven auf Phänomene des Verstehens vor. Johannes Odendahl zeigt die Grenzen eines kognitionspsychologischen Verstehensmodells auf, wie es derzeit die deutschdidaktische Theoriebildung bestimmt, und skizziert am Leitfaden der Embodied Cognition einen leib- und emotionsbezogenen Verstehensbegriff mitsamt einigen didaktischen Konsequenzen. Thomas Hoffmann entwirft ein Rahmenmodell Verstehender Diagnostik und votiert für einen pädagogisch produktiven Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Erkrankungen. Niels Anderegg nähert sich dem Phänomen Führung aus phänomenologischer und netzwerktheoretischer Sicht. Alina Knoflach erörtert anhand des forschungsmethodologischen Zugangs der Oral History Phänomene des (Nicht-)Verstehens in Bezug auf religiöse Lebensführung. Julia Ganterer widmet sich dem Thema häusliche Gewalt und fokussiert dabei unterschiedliche Erfahrungsdimensionen.
Was aber heißt das: etwas zu verstehen? Genau lässt sich das immer noch nicht sagen, aber die Beiträge dieses Bandes werfen wesentliche Schlaglichter auf unterschiedlichste Facetten dieses rätselhaften Phänomens aus den verschiedensten Bildungs- und Forschungskontexten. Sollten Sie, geschätzte Leser*in, angeregt sein, die Fragestellungen weiterzudenken, ist die Übung gelungen.
Literaturverzeichnis
Merleau-Ponty, Maurice. Phenomenology of Perception. Trans. by Colin Smith. London, New York 1966.
Meyer-Drawe, Käte. Was aber heißt das: etwas wahrzunehmen? In: Hans Karl Peterlini/Irene Cennamo/Jasmin Donlic (Hg.). Wahrnehmung als pädagogische Übung. Theoretische und praxisorientierte Auslotungen einer phänomenologisch orientierten Bildungsforschung. Erfahrungsorientierte Bildungsforschung, Bd. 7. Innsbruck, Wien 2020a, S. 7–24.
Meyer-Drawe, Käte. Szenisches Verstehen. In: Vasileios Symeonidis/Johanna F. Schwarz (Hg.). Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren. Potential und Grenzen der phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung in Annäherung an das Phänomen Verstehen. Erfahrungsorientierte Bildungsforschung, Bd. 8. Innsbruck, Wien 2020b, S. 17–27.
Peterlini, Hans Karl. Der zweifältige Körper. Die Leib-Körper-Differenz als diskriminierungskritische Perspektive – Vignettenforschung zu Rassissmuns, Sexismus und Behinderung. In: Hans Karl Peterlini/Irene Cennamo/Jasmin Donlic (Hg.). Wahrnehmung als pädagogische Übung. Theoretische und praxisorientierte Auslotungen einer phänomenologisch orientierten Bildungsforschung. Erfahrungsorientierte Bildungsforschung, Bd. 7. Innsbruck, Wien 2020, S. 25–45.
Waldenfels, Bernhard. Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht. Frankfurt am Main 2019.
1. Grundlagen
Szenisches Verstehen
Käte Meyer-Drawe
„Eine Erfahrung, gegen die man sich nicht gewehrt hat, ist keine Erfahrung. Eine Einsicht, die man nicht wahrhaben will, ist keine Einsicht.
Ein Schmerz, den man vergißt, ist kein Schmerz.“
(Canetti 1999, S. 31)
„Auf Erfahrungen kann man sich nur beziehen, nicht berufen.“
(Benyoëtz 1990, S. 84)
In den folgenden Überlegungen sollen einige Vermutungen zur Besonderheit der Vignettenforschung Innsbrucker, Brixener und Klagenfurter Provenienz zur Diskussion gestellt werden. In einem ersten Schritt wird erläutert, woher der Einfall und die Motivation stammen, über szenisches Verstehen im Zusammenhang mit der Vignettenforschung nachzudenken. Im zweiten Teil soll das Konzept szenischen Verstehens dargelegt werden, um schließlich im dritten Abschnitt den Gedankengang mit einigen Überlegungen zu einer anderen Empirie zu schließen.
1. Einfall und Motivation
Der Einfall, über szenisches Verstehen nachzudenken, ist Hans Karl Peterlini zu verdanken, der sich unter anderem der szenischen Theaterarbeit als einer performativen Möglichkeit phänomenologischer Lernforschung zuwendet. Er schreibt: „Das performative In-Szene-Setzen einer Vignette, einer Mikrohandlung daraus, erlaubt es, Erkenntnisse über die Vignette hinaus im Raum entstehen zu lassen und nachfühlbar zu machen, die Komplexität einer solchen Dynamik auf immer neue Facetten und Feinprozesse zu untersuchen – nicht als Ausdeutung des Geschehenen, sondern als Erweiterung der eigenen Verstehens- und Handlungsmöglichkeiten.“ (Peterlini 2017, S. 53) Es leuchtet sofort ein, dass in solchen Inszenierungen der Sinnlichkeit des Erfahrens ein besonderes Gewicht zukommt. Nun kann man wirklich die Faust heben, am Saum des Pullovers zupfen, das Haar hinters Ohr streichen, die Augen zusammenkneifen, die Stimme erheben, Scham oder Zorn ausdrücken, mit dem Blick die Tischplatte durchbohren, gähnen, grinsen, schlendern, auf etwas oder jemanden zusteuern, ihn oder sie berühren, sanft oder heftig, räuspern und weiteres mehr. Dabei ist es beispielsweise etwas anderes, wenn ich gestisch kommentierend hüstele, oder meine Erkältung diese Geräusche verursacht. Diese Nuancen sind allein sprachlich nur sehr schwer einzufangen. Die Expressivität des Leibes ist hier überlegen. Zwischenleibliche Konfigurationen, etwa eine „betroffene Stille“, besänftigende oder abwehrende Berührungen oder Blicke, die sich kreuzen, können jedoch aus eigener Erfahrung nachempfunden werden. Akteur*innen konstituieren sich selbst, „indem sie auf die Situationen antworten, in die sie zugleich verstrickt sind“ (ebd.). Das Wörtchen indem ist wichtig, weil es uns hilft, bornierte Alternativen außer Kraft zu setzen, etwa jene von aktiv und passiv oder von Subjekt und Objekt. Keine der Alternativen rangiert in konkreten Kontexten vor den anderen. Sie realisieren sich durcheinander.
Solche Schauspiele sinnlicher Reinszenierungen setzen voraus, dass Vignetten selbst szenischen Charakter haben. Das wird von Forscher*innen mitunter intuitiv bemerkt. So spricht Johanna F. Schwarz von „Vignettenszenen“ und liest Vignetten im Hinblick auf heikle Stationen, die wie etwa Begrüßungsszenen (vgl. Schwarz 2018, S. 133 ff.) kritische Momente der Begegnung bedeuten, in der Zuschreibungen eine besonders große Rolle spielen und oft langfristige Folgen haben. Auch Horst Rumpf spricht bei seinen Vignettenlektüren von „Szenarien“ (Rumpf 2012, S. 93). Diesem szenischen Charakter der Vignetten muss durch ein besonderes Verstehen, von dem im zweiten Teil die Rede sein soll, Rechnung getragen werden.
Motiviert sind die Darlegungen durch die Beobachtung, dass Vignettenforscher*innen nicht selten im Vergleich zu anderen qualitativ empirisch Forschenden eine eher defensive Haltung einnehmen. Sie beugen sich damit einem Maßstab, der nicht selbstverständlich ist, nämlich dem Vorrang der Objektivität von Erkenntnissen, die sich in Aussagen überführen und damit als wahr oder falsch beurteilen lassen, vor Erfahrungen, die erzählt werden. Vielleicht mitunter