3. Eine andere Empirie
Wenn in der Forschung von Empirie die Rede ist, dann ist sehr Unterschiedliches gemeint. Wissenschaftliche Erfahrungen werden oft als das Gegenteil von Lebens- oder Alltagserfahrungen aufgefasst. Im Rahmen der Durchsetzung mathematischer und naturwissenschaftlicher Vorbilder treten die Methoden, das Messen und Experimentieren, in den Vordergrund. Die Autorität positiver Empirie bröckelt jedoch, seitdem der reine Blick durch historische Betrachtungen in seine Schranken verwiesen wurde. Nun zeigt sich, dass die sogenannten unumstößlichen Tatsachen nachträgliche Idealisierungen im Forschungsprozess sind. (Vgl. Hampe/Lotter 2000, S. 12) Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie haben aufgewiesen, dass es keineswegs immer um wiederholbare Beobachtungen von eindeutigen Sachverhalten geht. Forschungen haben es nicht mit Naturdingen zu tun, sondern mit epistemischen Objekten. Diese Wissensobjekte verkörpern Konzepte, Konstrukte, Begriffe und Modelle, die auf Experimentalsysteme und Evidenzräume angewiesen sind. Damit soll die eingebürgerte Auffassung unterlaufen werden, die sich dadurch auszeichnet, dass sie Experimente als Prüfsteine von Theorien thematisiert. Epistemische Objekte testen keine Hypothesen, sondern bringen Wissen allererst hervor oder, um es mit Hans-Jörg Rheinberger zu formulieren, der diesen Begriff in die Wissenschaftstheorie eingeführt hat: Während technische Objekte „in erster Linie Maschinen [sind], die Antworten geben sollen“, ist ein „epistemisches Objekt […] in erster Linie eine Maschine, die Fragen aufwirft.“ (Rheinberger 2006, S. 33) Wissensobjekte sind deshalb unbestimmt, offen. Sie sind unvermeidlich gebunden an das, was in einer Zeit unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen sagbar ist. Die Frage muss demgemäß stets lauten, wie wurde dieses epistemische Objekt produziert, damit seine Effekte in bahnbrechenden Experimenten erzeugt werden können. Wissenschaftliche Erfahrung rückt so im Unterschied zum Beginn ihrer Karriere in die Nähe alltäglicher Erfahrung. Damit werden gleichzeitig Möglichkeitsräume geschaffen, das Feld der Erkenntnisse zu erweitern und der logischen Präzision mit ihrer begrifflichen Eindeutigkeit eine ästhetische Prägnanz und ihre anschauliche Dichte zur Seite zu stellen. (Gabriel 2019, S. 81) Prägnant zu sein, also bedeutungsschwanger, meint nun nicht länger ein Defizit, sondern einen spezifischen Reichtum. Diesem Überfluss widmen sich Vignetten in ihren Narrationen, die sich propositional nicht einholen lassen. So wendet sich Gabriele Rathgeb der Neugierde zu, dem Begehren nach Wissen, das sich nicht operationalisieren, aber erfahren lässt. Denn man kann wahrnehmen, wenn jemand Feuer fängt. Johanna F. Schwarz kann zeigen, dass die Attribuierungen der Lehrpersonen ungefähr halb so viele Qualitäten umfassen, wie sie von den Vignettenschreiber*innen entdeckt werden. (Vgl. Schwarz 2018, S. 263 ff.) In der Suche nach dem „getreuen Ausdruck“ (vgl. Meyer-Drawe 2018) explodiert das Anschauungsfeld und gibt zahllose Nuancen und Facetten preis.
„Es bleibt [indes] das Problem des Überganges vom Wahrnehmungssinn zum sprachlichen Sinn, vom Verhalten zur Thematisierung.“ (Merleau-Ponty 2004, S. 228) Das szenische Verstehen ist angewiesen auf einen schöpferischen Ausdruck. Man stößt immer wieder an die Grenzen von Sprache, welche das schweigende Einvernehmen mit der Welt brechen muss, um ihren Sinn zu vollenden. Philosophische Betrachtungsweisen nähern sich damit der Kunst, die wie sie die Welt nicht lediglich abbildet, sondern in ihren Gestaltungen allererst verwirklicht. Phänomenologie, so wie sie von Vignettenforscher*innen verstanden wird, ist eine Philosophie der Erfahrung. Diese unternimmt den nicht abzuschließenden Versuch, der Vielfalt und Mehrdeutigkeit von Erfahrungen eine Stimme zu verleihen. Sie beansprucht kein Privileg mit ihrem Eintritt in die Welt. „Phänomenologie ist Erotik des Schauens. Ihr sinnlich-übersinnliches Verlangen richtet sich auf das anschaulich Gegebene. Ihre Treue gilt den Phänomenen, für die wir nicht selten den Blick verloren haben.“ (Becker 2011, S. 686) Dieser Blick ist allerdings kein rein konstitutiver Akt, sondern eine mediale Weltzuwendung, eine passionierte Aufmerksamkeit, die in szenischen Konstellationen abverlangt, provoziert, nachgefragt und veranlasst wird.
Literaturverzeichnis
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