Peterlini, Hans Karl. Die Geburt des Pathos. In: Markus Ammann/Tanja Westfall-Greiter/Michael Schratz (Hg.). Erfahrungen deuten – Deutungen erfahren. Experiential Vignettes and Anecdotes as Research, Evaluation und Mentoring Tool. Innsbruck, Wien, Bozen 2017, S. 39–57.
Rheinberger, Hans-Jörg. Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Frankfurt am Main 2006.
Rumpf, Horst. Szenarien. In: Michael Schratz/Johanna Schwarz F./Tanja Westfall-Greiter (Hg.). Lernen als bildende Erfahrung. Vignetten in der Praxisforschung. Mit einem Vorwort von Käte Meyer-Drawe und Beiträgen von Mike Rose, Horst Rumpf und Carol Ann Tomlinson. Innsbruck, Wien, Bozen 2012, S. 93–111.
Scholz, Oliver Robert. „… die Erfahrungen anderer … adoptieren …“. Zum erkenntnistheoretischen Status des Zeugnisses anderer. In: Michael Hampe/Maria Sibylla Lotter (Hg.). „Die Erfahrungen, die wir machen, sprechen gegen die Erfahrungen, die wir haben“. Über Formen der Erfahrung in den Wissenschaften. Berlin 2000, S. 41–63.
Schwarz, Johanna F. Zuschreibung als wirkmächtiges Phänomen in der Schule. Innsbruck, Wien, Bozen 2018.
Waldenfels, Bernhard. Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am Main 2008, 2., erweit. Auflage.
Wieland, Wolfgang. Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982.
Verstehen und Beschreiben.
Zur phänomenologischen Deskription in der qualitativen Empirie
Malte Brinkmann
Das Verhältnis von Verstehen und Beschreiben bzw. von Interpretation und Deskription ist seit langem Gegenstand philosophischer, methodologischer und pädagogischer Debatten. Verstehen gilt seit den Anfängen der Hermeneutik bei Schleiermacher als Grundbegriff der Geisteswissenschaften und der Pädagogik (vgl. Broecken 1975). Zudem ist hermeneutisches Verstehen als Interpretieren und Dekodieren der Grundmodus qualitativ rekonstruktiver Verfahren in den Sozialwissenschaften und in der Bildungsforschung.3 Verstehen wird in rekonstruktiv-hermeneutischen Ansätzen methodologisch als Rekonstruktion eines impliziten Sinnes gesehen und in unterschiedlichen Methodologien operationalisiert (vgl. Brinkmann 2015b). Von diesem hermeneutischen Verstehensbegriff ist der phänomenologische zu unterscheiden. Phänomenologisches Verstehen ist deskriptiv orientiert. Es ist nicht an Text oder an Diskurs, sondern an den Begriff der Erfahrung und an die leibliche Wahrnehmung zurückgebunden. Es ist damit am Leib und an seinen Ausdruck orientiert (vgl. Brinkmann 2019a). Phänomenologisches Verstehen wird im Folgenden im Modus der Deskription, Reduktion und Variation als ein methodologisch operatives Verfahren bestimmt. Aus der Perspektive einer theoretischen, pädagogischen Empirie (Brinkmann 2015a) wird Verstehen als zentraler Vollzugsmodus sowohl der Forschungspraxis als der pädagogischen, verkörperten „Praxis“ gesehen.4 Die phänomenologische Beschreibung wird als Verfahren vorgestellt, das, subjektkritisch sowie voraussetzungs- und geltungskritisch, die unterschiedlichen Ordnungen zwischen dem Impliziten und Expliziten sowie zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren zu differenzieren und einer methodologischen Reflexion zuzuführen versucht (vgl. Brinkmann 2014, 2015a, b, 2019a, 2020a).
Dabei versuche ich die These stark zu machen, dass sich phänomenologisches Verstehen nicht auf einen verborgenen, latenten Sinn richtet, der interpretatorisch rekonstruiert werden soll, sondern auf „die Sache selbst“ – so die Losung Husserls. Diese Sache lässt sich deskriptiv in einer scheinbar paradoxen Operation erfassen: die phänomenologische Deskription richtet sich auf etwas, was sich in der Erfahrung zeigt und in diesem Zeigen zugleich „verstellt“ oder „verschattet“ (Fink 2004, S. 193) ist.
Hiermit soll ein Beitrag für eine genauere Bestimmung phänomenologischer Methodologie in der qualitativen Sozial- und Bildungsforschung geleistet werden, insbesondere für die phänomenologisch orientierte Forschung selbst. Hier wird oftmals von einem phänomenologisch-hermeneutischen Verfahren (Lippitz 2018, Danner 1994, Mollenhauer 2010) von einer hermeneutisch-phänomenologischen Humanwissenschaft (van Manen 2012) bzw. von einer „Tiefe des Verstehens“ (Schratz et al. 2012, S. 29) gesprochen. Hermeneutik und Phänomenologie, Verstehen und Beschreiben gehen in diesen Ansätzen ineinander über. Die folgenden Ausführungen formulieren sich aus einer phänomenologischen Perspektive, die methodologische und gegenstandstheoretische Fragen der Pädagogik aufgreift, die poststrukturalistischen Fragen an die Hermeneutik produktiv wendet und Verstehen in den Differenzen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Sagbarkeit und Unsagbarkeit sowie im Wechselverhältnis von Appell und Antwort neu bestimmt.
Ich werde zunächst Verstehen als Grundbegriff in der Pädagogik darstellen und dann die Verschiebungen hermeneutischer Verfahren in die qualitative Bildungsforschung knapp benennen (1). Danach werden zunächst Grundzüge hermeneutischen Verstehens bei Schleiermacher, Dilthey, Gadamer und Buck herausgearbeitet (2) und seine Probleme benannt (3). Sodann wird das phänomenologische Verfahren der Deskription genauer vorgestellt. Ausgehend von der phänomenologischen Losung „zu den Sachen selbst“ werden die Ambivalenzen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Phänomens für seine Beschreibung (4) sowie jene zwischen Sagbarkeit und Unsagbarkeit in der signifikativen Differenz (5) erörtert. Phänomenologische Differenz wird dann für die Praxis qualitativen Forschens als ambivalentes Verfahren dargestellt, das mit der Sprache gegen ihre Grammatik vorgeht (6). Im nächsten Schritt werden die mit der Deskription mitgängig vollzogenen Verfahren der Reduktion (7) und der Variation (8) genauer vorgestellt. Deskription erscheint in dieser Perspektive nicht mehr als Auslegung und Rekonstruktion von bereits Vorhandenem, sondern als projektive „Einlegung“ von Sinn bzw. als Signifikation. Das phänomenologische Verfahren der Deskription ermöglicht eine Pluralisierung und eine Produktion von Sinn bei gleichzeitiger intersubjektiver Validierung im Modus des geteilten Verstehens als Antworten (9). Diese Gedanken werden schließlich unter forschungspraktischer Perspektive zusammengefasst (10).
1. Verschiebungen: Verstehen in der qualitativen Sozial- und Bildungsforschung
Verstehen als Grundbegriff der Hermeneutik und Praxis der Pädagogik hat eine lange Geschichte von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik bis hin zur hermeneutischen Pädagogik (vgl. Broecken 1975). Der Grundsatz Schleiermachers, nach dem Hermeneutik als die „Kunst“ bestimmt wird, „die Rede des anderen richtig“ (Schleiermacher 1977, S. 75) bzw. „besser zu verstehen als ihr Urheber“ (ebd., S. 94), hat Vorgehen und Selbstverständnis der Hermeneutik in der Pädagogik im Kontext der Geisteswissenschaften von Dilthey über Litt, Nohl, Spranger, Flitner bis hin zu Bollnow und Klafki wirkmächtig bestimmt. Verstehen galt als Königsweg, mit dem Theorie und Praxis, Besonderes und Allgemeines, Wissenschaft und Leben zusammengeführt werden können (Huschke-Rhein 1979, Uhle 1989, Gaus/Uhle 2006).
Die problematischen Verstrickungen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik in den Nationalsozialismus haben spätestens seit den 60er Jahren zu einer Kritik nicht nur dieses Paradigmas, sondern auch des hermeneutischen Verstehens geführt.5 Mit der von Roth ausgerufenen „realistischen Wende“ (Roth 1967), der Heraufkunft der empirischen Bildungsforschung sowie mit dem linguistic turn und der poststrukturalistischen Kritik an Subjekt, Kohärenz, Geschichte, Wahrheit und Autor ist das Verstehen als Modus in die Kritik geraten. Die „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“ (Kittler 1980) hat dazu geführt, dass die Hermeneutik als Paradigma der Pädagogik mittlerweile fast verschwunden ist.
Das Verstehen ist allerdings in der Pädagogik nicht gänzlich verschwunden. Der Exorzismus der Poststrukturalisten hat vielmehr zu einer Verschiebung in das Gebiet des Methodischen und Methodologischen geführt. In der qualitativen Bildungsforschung gilt Verstehen nach wie vor als ein, wenn nicht der Weg, die Erfahrungen anderer zu rekonstruieren. Verstehen gilt nun nicht mehr als „Medium der einschlägigen Erfahrung“ und „Organ der Praxis“, wie es die hermeneutische Pädagogik und Handlungshermeneutik sah, sondern als ein „die empirische Erkenntnis ermöglichendes Moment“ (Buck 1981). Verstehen bleibt damit an Erfahrung gebunden – allerdings als methodisierte und rekonstruierte Erfahrung anderer: als Fremdverstehen. Das Paradigma der rekonstruktiven Sozial- und Bildungsforschung zeugt von einer mannigfaltigen Pluralität