Bonhoeffer meint, dass dieses Streben die Menschen im Paradies in den Sündenfall getrieben habe. Es hat sie dazu gebracht, vom Baum der Erkenntnis zu essen; von der Frucht, die Gott dem Menschen zu essen verboten hat. Adam und Eva wollten, vom Teufel überredet, an Gottes uneingeschränkter Erkenntnis teilhaben. Ein ähnliches Motiv sieht Bonhoeffer bei manchen Pharisäern zur Zeit von Jesus. Sie wollten sich mit einer bis ins kleinste Detail regulierten Umsetzung des Gesetzes vergewissern, dass sie auch ja in jedem Fall den Willen Gottes taten; die besten Entscheidungen trafen. Auch hier ging es um den letzten Durchblick, verbunden mit dem Bedürfnis, sich gegen das Schuldigwerden abzusichern.
Darin besteht die vielleicht »frommste« Form der Gottlosigkeit. Die Hybris der besonders Gesetzestreuen bestand im Anspruch, vor Gott so ziemlich alles richtig zu machen. Zu denken, so etwas sei möglich. Diese Selbstsicherheit machte sie gleichzeitig zu gnadenlosen Richtern all jener, die sich nicht ebenso entschlossen darum mühten wie sie selbst: Das unbekümmerte Volk, die Sünder, die Unreinen, die Zöllner. Sich selbst wähnten sie auf der sicheren Seite.
Doch gerade sie kritisierte Jesus am schärfsten. Wer Gut und Böse im Griff zu haben meint, macht sich nicht nur zum Richter über andere – er wird selbstgerecht. Der springende Punkt dabei: So löst er sich aus der Abhängigkeit von Gott. Er braucht Gottes Gnade gar nicht mehr, er macht ja alles richtig. Nirgendwo hat Jesus das treffender beschrieben als im Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner in Lukas 18,9-14.
Die Bereitschaft, nicht schuldlos dazustehen
Wenn dies der falsche Weg ist, welchen sollen wir denn gehen? Bonhoeffer verweist uns an dieser Stelle auf die Nachfolge von Jesus Christus. Darin fixieren wir uns nicht auf »richtig« oder »falsch«; wir schauen vielmehr auf Jesus selbst. In der Gemeinschaft mit ihm sollen wir durchaus prüfen, was der Wille Gottes ist. Und auf der Grundlage dieses Prüfens auch Entscheidungen treffen. Aber das letzte Urteil darüber, ob wir dabei den Willen Gottes ganz oder nur teilweise treffen, dürfen wir nicht selbst fällen. Dafür ist allein Gott zuständig. Denn unsere Perspektive ist immer begrenzt; unsere Erkenntnis Stückwerk; unsere Einschätzung selbst dann getrübt, wenn wir uns besonderer Scharfsicht rühmen.
Hinzu kommt, dass wir in den Stürmen des Lebens eben oft nicht wählen, aber dennoch entscheiden müssen. Nur selten sind wir in der komfortablen Lage, dass es dabei um ein klares Abwägen zwischen absolut richtig und absolut falsch geht. Bonhoeffer stand selbst auch vor diesem Dilemma, als er für sich selbst klären musste, ob er die zur Tötung des Führers entschlossene Widerstandsbewegung gegen Hitler unterstützen wollte, oder nicht. Schnell war ihm klar: Ich kann gar nicht vermeiden bei dieser Entscheidung Schuld auf mich zu laden. Wer nichts gegen das Böse unternimmt, wer tatenlos zuschaut, der hat Anteil daran. Wer auf der anderen Seite Hitler mit Gewalt beseitigen will, bricht das Gebot »Du sollst nicht töten«. Es gab keine Option der reinen Weste. Was er auch tat, er machte sich damit schuldig.
Bonhoeffer entschied sich zur Unterstützung des Widerstands gegen Hitler. Das Urteil darüber, ob dies wirklich der bessere der beiden schuldbehafteten Möglichkeiten sei, überließ er Gott. In seiner Ethik schreibt er:
Wer in Verantwortung Schuld auf sich nimmt – und kein Verantwortlicher kann dem entgehen –, der rechnet sich selbst und keinem anderen diese Schuld zu und steht für sie ein, verantwortet sie. Er tut es nicht in dem frevelnden Übermut seiner Macht, sondern in der Erkenntnis, zu dieser Freiheit genötigt und in ihr auf Gnade angewiesen zu sein.3
Als Christ handeln und entscheiden setzte also voraus, sich nicht nur die Hände, sondern auch das Herz schmutzig zu machen. Nicht mutwillig, aber im Wissen darum, dass es letztlich unvermeidbar ist. Dies bejahen können wie aber nur, wenn wir Gottes Vergebungsbereitschaft mehr trauen als unserem eigenen Bemühen um den Willen Gottes.
Vorläufige Entscheidungen
In eine ähnliche Richtung weist Tim Geddert in seinem Buch Verantwortlich leben. Er rät, in umstrittenen, nicht einfach zu klärenden Fragen nach Tradition der Täuferbewegungen zu »binden« und zu »lösen«. Dabei klärt man im Blick auf aktuell gegebene Umstände, wie man darin am besten den Willen Gottes tun kann. Man entscheidet gemeinsam nach bestem Wissen und Gewissen; im Hören auf Gott und auf sein Wort.
Gleichzeitig verzichtet man auf den Anspruch, die damit verbundene Einschätzung von Gottes Willen sei genauso unveränderlich wie dieser selbst. Die getroffene Entscheidung müsse deshalb für alle nachkommenden Generationen in genau dieser Form gültig bleiben. Nein, denn späteren Generationen von Christen präsentiert sich das geprüfte Anliegen vielleicht unter neuen, möglicherweise ganz anders lautenden Umständen. Dann gilt es wieder zu prüfen, was der rechte Weg sein könnte. Dann stellt sich wieder die Aufgabe, im Hören auf Gott, sein Wort und die Gemeinschaft erneut eine Entscheidung zu treffen. Sie vor Gott und den Menschen zu verantworten. Es ist möglich, dass sich diese Entscheidung von derjenigen der eigenen Mütter und Väter im Glauben unterscheidet. Beide aber haben sich in Demut und Besonnenheit darum bemüht zu prüfen, was gut ist und was der Liebe zu Gott und dem Nächsten am besten Ausdruck verleiht.
Als ich vor vielen Jahren Pfarrer einer Kirchgemeinde wurde, hatte diese Gemeinde einen solchen Prozess hinter sich. Es ging damals um die Frage, ob Frauen Teil der Gemeindeleitung sein und predigen dürfen. Es scheint ja, als würde Paulus beides verneinen (1. Korinther 14,34-35 und 1. Timotheus 2,12). Bisher war das der ausschlaggebende Orientierungspunkt und so leiteten und lehrten hier nur Männer. Andererseits wissen wir, dass Frauen zum erweiterten Jüngerkreis von Jesus gehörten, dass sie als Erste seine Auferstehung verkündeten und in der Urgemeinde Schlüsselaufgaben innehatten. Welche Schlussfolgerungen sollten wir daraus für die heutige Gemeinde ziehen? Meine Kirchgemeinde machte sich auf einen längeren Weg der Entscheidungsfindung. Es gab Bibelabende, Einblicke in die Kirchengeschichte, Diskussionen und Gebete. Am Ende des Ringens einigte man sich darauf, dass die Hauptlast der biblischen Argumente und der damit verbundenen Erwägungen es erlauben würde, dass Frauen und Männer gemeinsam und einander ergänzend leiten und lehren durften.
Es war ein gemeinschaftliches »Lösen« im Hören auf Christus. Keines, das alle Fragen beantwortete und jede Spannung beseitigte. Aber eines, dass man gemeinsam tragen und vor Gott verantworten wollte. So zu handeln ist eine enorme Gratwanderung. Sie bewahrt uns aber vor einem mit der Bibel bewaffneten Absolutismus in den komplexen Fragen des christlichen Glaubens und Lebens.
Mit Sorgfalt und Demut, ohne Angst vor Irrtürmern
Was heißt das im Blick auf unsere Entscheidungen?
1. Wir tun gut daran, den Prozess des Abwägens und Prüfens mit aller Sorgfalt zu gestalten.4
2. Wir tun gut daran zu akzeptieren, dass es in manchen Fragen, die uns umtreiben, keine perfekte, für alle Zeiten gültige, unanfechtbare, perfekte »biblische« Entscheidung gibt.
3. Dennoch entscheiden wir. Betend, auf Gott und aufeinander hörend. Und verantworten unsere Entscheidung. Wenn nötig, korrigieren wir sie. Aber wir manipulieren niemanden, indem wir einfordern, dass er unsere Entscheidung als Gottes ultimativen Willen betrachten müsse. Wir seien uns absolut gewiss, dass es die beste Entscheidung sei. Nein, wir unterscheiden zwischen unseren unvollkommenen Entscheidungen und Gottes unfehlbarem Wort, wie es uns in den Kernaussagen der Bibel begegnet.
Im Buch Widerstand und Ergebung finden wir eine weitere Äußerung Bonhoeffers, die uns an dieser Stelle eine Ermutigung sein kann. Sie tröstet uns in unserer Angst angesichts der Möglichkeit, eine nicht ideale oder gar falsche Entscheidung zu treffen. Bonhoeffer schreibt an seinen Freund Eberhard Bethge:
Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.
Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie