DR. REINHARD DEICHGRÄBER
Wanderungen im Heiligen Land
Viele Gläubige aus unseren Gemeinden waren schon einmal in Israel, im Heiligen Land, und sind mit für ihren Glauben wichtigen Erfahrungen zurückgekehrt. Manche können sogar von mehreren Reisen berichten, die sie nach Israel/Palästina gemacht haben. Wenn man sie genauer nach dem Verlauf der Reise befragt, bekommt man sehr oft zu hören: Wir sind im Land mit einem Bus unterwegs gewesen und haben dabei die wichtigsten biblisch bezeugten heiligen Orte angefahren.
Und so waren sie am See Genezareth, auf dem Berg Karmel, auf dem Berg der Seligpreisungen, auf dem Berg der Verklärung und natürlich vor allem ausgiebig in der Hauptstadt des Landes, in Jerusalem. Vielleicht führte die Reise auch nach Tel Aviv, in die derzeitige Hauptstadt Israels, und natürlich auch nach Nazareth oder in den tiefen Süden des Landes, zum Berg Sinai.
Ich kann mich mit denen, die so im Heiligen Land unterwegs waren, freuen, und ich kann verstehen, wieviel Gewinn sie für ihren Glauben von dort mitgenommen haben. Trotzdem: Ich selbst habe bei meinen Besuchen im Heiligen Land weitgehend das Wandern bevorzugt. So fühlte ich mich vor allem Jesus und seinen Jüngern nahe, die ja ebenfalls in erster Linie zu Fuß im Land unterwegs waren. Und auf diese Weise habe ich bei meinen Wanderungen im Heiligen Land so manches erlebt, was eigentlich nur ein Wanderer so erleben kann.
Gastfreundschaft
Im Jahr 1978 war ich mit den Studenten der theologischen Kurse des Hermannsburger Missionsseminars auf Studienfahrt im Heiligen Land. Am Anfang unserer Reise stand eine dreitägige Wanderung, zu der wir uns in drei Gruppen aufgeteilt hatten. Sie führte von Nazareth nach Kapernaum.
Es war ein Freitagabend, an dem wir abends in einem kleinen Ort ankamen. Wir rasteten auf einem Platz im Zentrum des Ortes und – wurden von den Einheimischen auf der Stelle zur Teilnahme am abendlichen Synagogengottesdienst eingeladen! Das ließen wir uns gerne gefallen. Für die meisten von uns war es das erste Mal, dass sie einen Synagogengottesdienst erleben konnten. Was uns alle sehr verwunderte: Während des Gottesdienstes ging es in der Synagoge höchst lebhaft zu.
Männer gingen hin und her und sprachen mal hier und mal da halblaut miteinander. Unmittelbar nach dem Gottesdienst erfuhren wir den Grund für die Gesprächigkeit während des Gottesdienstes: Die Männer hatten miteinander verabredet, dass sie uns zur Sabbat-Abendmahlzeit in ihre Familien einladen wollten! Und sie hatten uns – wir waren ja gut dreißig Personen – auf die verschiedenen Familien im Dorf aufgeteilt.
So kam auch ich zusammen mit einem unserer Studenten in eine Familie und erlebte eine wunderbare Gastfreundschaft. Und wir erfuhren, dass der Familienvater 1938 aus den Niederlanden nach Israel eingewandert war, also kurz bevor auch in den Niederlanden die meisten Juden Opfer des deutschen Vernichtungswillens wurden. Und nun waren wir die freundlich aufgenommenen Gäste eines der Überlebenden!
Natürlich haben wir auch die Heiligen Stätten besucht: Nazareth, der Ort, an dem Jesus aufgewachsen ist, war ja unser Ausgangspunkt. Und natürlich waren wir auf dem Berg der Bergpredigt Jesu und der Seligpreisungen. Und am See Genezareth waren wir, und in Kapernaum, der Heimat des Jüngers Petrus und einiger anderer Jünger Jesu. So kamen wir auch nach Tabgha mit seinem bescheidenen Kloster, in der Nähe des Ortes der wunderbaren Speisung der Fünftausend.
Wer in Jesu Tagen als Jude in Galiläa wohnte, reiste wenigstens einmal im Jahr nach Jerusalem, um dort eines der religiösen Feste Israels zu feiern. Und wie reiste man? Die meisten wanderten zu Fuß. Einige, die etwas Reicheren, hatten einen Esel dabei. Das war im Blick auf das Gepäck leichter, aber schneller war man nicht. Eine Wanderung von Galiläa nach Jerusalem gehört auch heute zu den schönsten Erfahrungen, die ein Pilger im Heiligen Land machen kann. Von zwei »Stationen« auf einer solchen Wanderung will ich hier berichten.
Vom Berg der Verklärung zu den Samaritanern
Noch ziemlich am Anfang der Drei- oder Vier-Tage-Wanderung kommt man an den Berg der Verklärung. Am Fuß des Berges warten einige Taxen, die den Pilger schnell auf den Berg hinaufbefördern. Aber wem es körperlich irgend möglich ist, der sollte die Taxen am Straßenrand stehen lassen und sich zu Fuß auf den nicht gerade leichten Weg nach oben machen.
Langsam geht es bergauf, langsam nähert man sich dem Ort, an dem einst die drei Lieblingsjünger Jesu erlebten, wie ihnen ihr Meister in verklärter Gestalt erschien. Und wer seinen Glauben nicht in historischen Richtigkeiten erstickt hat, der kann auch heute erleben, wie sein persönlicher Glaube bei diesem Aufstieg wunderbar lebendig wird, immer lebendiger, immer frohgemuter und immer ernsthafter. Und oben auf dem Berg Tabor, auf dem Berg der Verklärung angelangt, werden wir für unsere Mühe auf das Schönste belohnt, denn oben wartet ein herrlicher Garten, ein wahres Paradies auf den Wanderer. Und ich kann wieder einmal die herrliche Erfahrung machen: Was ich am Ziel eines womöglich sehr anstrengenden Fußweges erlebe, das erlebe ich viel intensiver, als wenn ich in einem Taxi oder mit einem Bus höchst bequem und (fast) in Nullkommanix nach oben gebraust bin. Ja, der Berg der Verklärung schenkt dem gläubigen Wanderer viel mehr als nur ein Erlebnis mit ein paar historischen Reminiszenzen (»hier war es …«, »hier soll … stattgefunden haben …«). Es ist, als habe der Herr mich selbst noch einmal an die Hand genommen, um mich auf der Höhe des Berges erleben zu lassen, wer er in Wahrheit ist.
Ganz anders, aber auch unvergesslich eindrucksvoll, war eine Begegnung in Nablus, dem antiken Samaria. In meinem Wohnzimmer habe ich zwei kostbare Erinnerungen aufgestellt, und zwar so, dass ich täglich viele Male daran vorübergehe. Und jeder Besucher, der zu mir kommt, kann von seinem Platz aus diese Kostbarkeiten sehen. Es handelt sich um zwei eindrucksvolle Geschenke, die mir Jacob Ben-Ezzi, der Hohepriester der Samaritaner, mitgegeben hat.
Samaritaner? Wir kennen sie aus der Bibel. Aber – und das ist gut zu wissen – es gibt sie auch heute noch. Und noch immer ist für sie der Berg Garizim, der Berg nahe bei Nablus, der heilige Berg, und noch immer pflegen sie ihren gut alttestamentlichen Glauben. Es gibt nicht mehr viele Samaritaner, aber immerhin an die fünfhundert mögen es sein. In Nablus aber traf ich ihren Priester, und von ihm bekam ich eine große Tafel mit einem handgeschriebenen hebräischen Bibeltext, 5. Mose 6,4-9, aber nicht in der Schrift, die seit rund zweitausend Jahren überall für hebräische Texte verwendet wird, sondern in althebräischer Schrift! Außerdem bekam ich ein kleines Heft, von Jacob Ben-Ezzi selber verfasst, mit dem Titel WHO are the Samaritans? Their Religion, Customs, and History. Ja, wer sind die Samaritaner? Die Freundlichkeit ihres Priesters erinnert mich bis heute an den barmherzigen Samariter, von dem Jesus im Evangelium (Lukas 10,25-37) erzählt!
Beherbergt in Bethlehem
Natürlich haben mich meine Wanderungen im Heiligen Land auch immer wieder nach Jerusalem geführt, und dort habe ich Gethsemane und den Ölberg, die Grabeskirche und die (deutsche) Erlöserkirche besucht. Doch hier möchte ich noch ein wenig davon berichten, wie mir gerade Bethlehem, der Geburtsort Jesu, wichtig und lieb geworden ist. Als ich zum ersten Mal nach Israel/Palästina kam, war ich bereits Lehrer am Hermannsburger Missionsseminar, und da hatte ich einen Studenten, Mitri Raheb, der in Bethlehem zu Hause war. Er wurde später Pastor der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Bethlehem.
Bei meinem ersten Besuch in Bethlehem durfte ich im Hause Raheb wohnen. Mitris Mutter versorgte mich mit wohlschmeckenden Mahlzeiten und Viola Raheb, Mitris jüngere Schwester (damals ging sie noch zur Schule), betätigte sich als tüchtige Übersetzerin.
Das Raheb’sche Haus war nur einen Katzensprung von der Geburtskirche entfernt. Das bot mir einen einfachen Vorteil: Wenn ich morgens früh aufstand,