Es war ein grauer Tag, stürmisch und regnerisch. Vermutlich hatte der Wind in der aufgeschlagenen Bibel auf dem Tisch geblättert, denn das Fenster in seiner kleinen Kammer stand offen. Heiners Blick fiel auf den Bibelvers »… denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist« (Römer 5,5; ELB). Sollte das ein »Wink« Gottes sein, eine Antwort auf seine Fragen? Der 17-Jährige kniete sich hin und betete diese schlichten Worte: »Heiliger Geist, bitte gieße die Liebe Gottes in mein Herz!« Er wartete, aber er spürte nichts von dem Wirken und Wehen des Geistes. Als er anschließend zu seinem Dienst in der Küche ging, bemerkte eine ältere Mitarbeiterin jedoch sofort, dass sich etwas geändert hatte: »Heiner, irgendetwas ist anders mit dir! Was ist das?«
Einige Freunde haben ihm später gesagt, dass es wohl so etwas wie eine Taufe mit dem Heiligen Geist gewesen sei, zumal sich nach und nach auch Charismen zeigten. Immer häufiger erlebte er Gottes Nähe auch im Traum, in Visionen oder er empfing prophetische Worte. Die Liebe zu Gott und zu den Menschen sprudelte Tag und Nacht. Nach der Zeit in England war nicht nur das Englisch besser geworden, sondern auch die Freude gewachsen, in Jesus und für Jesus leben zu können.
Offenbar war er nicht der Einzige, der in dieser Zeit das Wirken des Heiligen Geistes in einer besonderen Weise erlebt hatte. Die ersten Ausläufer der charismatischen Bewegungen waren auch in Deutschland angekommen. Die Gemeinschaft mit Christen aus den unterschiedlichen Kirchen und Denominationen öffnete seinen Blick für Gottes weltweites Wirken. Heiner wollte gerne Arzt werden und dann später als Missionar tätig sein. Schon jetzt organisierte er mit anderen Missionsreisen in Deutschland und Europa. An seinem 20. Geburtstag war er in Spanien zu einem Missionseinsatz. Abends, als alle Aktivitäten vorbei waren, ging er nochmals allein hinaus. Der Sternenhimmel über ihm leuchtete und er sang ein Loblied zu Gott. »Hier bin ich, Herr! Sende mich!«, rief er in die Nacht. Da war er wieder, der Gott, der ins Verborgene sieht. Und dieses Mal war es so, als würde er die Stimme des Herrn direkt hören: »Ich möchte, dass du ein Pastor wirst und Theologie studierst!«
Berufung
Das neue Lebensjahr begann mit einer neuen Lebenshingabe an Jesus. Als Heiner nach der Rückkehr seinen Eltern »beichtete«, dass er nicht Medizin, sondern Theologie studieren wolle, fingen sie an zu weinen. Im ersten Moment dachte er, sie seien schockiert, weil er als Mediziner doch wohl etwas mehr verdienen würde. Aber so war es nicht. »Wir haben seit deiner Geburt dafür gebetet!«, ließen sie ihn wissen. Doch sie waren klug genug gewesen, die Berufung dem Herrn selbst zu überlassen.
Das Theologiestudium in Hamburg und Löwen (Belgien) war herausfordernd, aber niemals hat Heiner an dieser Berufung gezweifelt. Gott, der ins Verborgene sieht, öffnet auch die Türen in die Weite der Zukunft. Zunächst als Landesjugendpastor in Niedersachsen, dann als Gemeindepastor und auch in überregionalen Diensten gab es keinen Tag, an dem die Dunkelheit das Licht vertreiben konnte, welches Gottes Ruf in seinem Herzen entzündet hatte. Gott hat einen Weg für jeden Menschen und er ist dabei, uns auf diesem Weg zu begleiten, auch wenn es durch dunkle, von Todesschatten geprägte Täler geht.
Heilige Momente sind Augenblicke der Ewigkeit. Sie verändern das ganze Leben und führen uns näher zu Gott und zu uns selbst. Schon als Student erlebte Heiner, wie Mächte der Krankheit nach seinem jungen Leben greifen wollten. Die Ärzte waren ratlos und konnten nicht helfen. Doch Gott hat eine medizinisch bestätigte Heilung gewirkt. In allen diesen bangen Monaten stand ihm seine Frau Christiane treu zur Seite, auch als es menschlich kaum noch Zukunft gab. Gott hatte das Paar auf wunderbare Weise zusammengeführt und ihnen drei gesunde und fröhliche Kinder anvertraut.
Doch auch andere Krankheitsnöte meldeten sich immer wieder mit Todesgebrüll. Heiner erlebte in diesen Tälern des Todes den Trost des treuen Gottes. Tiefpunkte im Leben sind oft Begegnungsorte zwischen Gott und Mensch. In allen Tälern wurde die Berufung von Heiner neu ausgerichtet. Durch die Erfahrung von schwerster Krankheitsnot und außergewöhnlicher Heilung hat Gott bewirkt, Heiners Berufung im heilenden Dienen der Gemeinde Jesu zu konzentrieren. Der Glaube reift in den Zeiten, wenn wir selbst loslassen und Gott vertrauen. Alle Wechselhaftigkeit des Lebens findet ihre Kontinuität in der Beziehung zu Jesus. Er ist derselbe – gestern, heute und in Ewigkeit (Hebräer 13,8).
Loslassen
Loslassen! Das hört sich so einfach an. Menschlich bedeutet es immer auch Schmerz. Etwa, wenn wir uns lösen müssen von Menschen, die uns lieb geworden sind; wenn wir an den Gräbern der Eltern und Freunde stehen oder wieder einmal einen Ortswechsel vollziehen. Jedoch liegt in der Armut und dem Loslassen auch etwas Jesus-Typisches. Er hat alles losgelassen bis zum Tode am Kreuz, aber Gott hat ihm alles geöffnet.
Als die Tage des sogenannten Ruhestandes sich anmeldeten, wusste Heiner sehr wohl, dass es dabei erneut um ein heiliges Loslassen ging. Gezielt verabschiedete er sich aus den unterschiedlichen Bezügen, Verantwortungen und vielen Gremien. Doch das Leben mit Gott wurde nicht leerer. Es schien so, als würden sich immer neue Dimensionen eröffnen. »Ich bin nun ein Sabbatier«, sagte er, als die Gemeinde ihn in den Ruhestand verabschiedete. »Der Sabbat, die Ruhe Gottes, das ist das eigentliche Ziel meines Lebens.« Dieser Sabbat ist alles andere als Langeweile oder Trägheit. Es sind die Tage, in denen Gott mehr in uns leuchtet als alle unsere Freude über Erfolge. Da strahlt etwas von der Schönheit Gottes hinein in die Vergänglichkeit des hiesigen Daseins.
Heiner genießt die Zeiten in der »Krypta«, im Verborgenen. Es sind Orte des Lebens, Momente des Hörens, Berührungen des Höchsten in aller Tiefe des Lebens. Die tägliche Lesung in der Bibel verstärkt den Hunger nach Gottes Gegenwart und die Zeiten des Betens richten sich nicht nach der Uhr. Heilige Momente sind unabhängig von Zeit und Ort, sie sind geprägt von der suchenden Treue und Liebe Gottes, von dem Weitblick für sein Wirken. Gottes Wohnung, seine Kathedrale, in der er uns leitet und anspricht, ist nicht nur in unseren Herzen, sondern in seinem ganzen Kosmos.
Auch heute sitzt der Sabbatier gern auf der Wiese vor dem Haus und schaut den Wolken nach. Sie sind nicht stumm. Sie erzählen von der Größe und Güte Gottes. Ebenso trillern die Vögel ein Loblied. Aber auch das Seufzen der Schöpfung hört der alte Mann. Es sind nicht nur die eigenen Seufzer, sondern das Weinen der Gletscher und die Schreie einer Erde nach dem Offenbarwerden der Kinder Gottes. Vor allem aber ist es diese unendliche Weite, die sich in seinem Herzen ausbreiten will. Es ist die Erfahrung der weltumarmenden Güte Gottes. Die Freude über die Weite und Unterschiedlichkeit im Volk Gottes prägen den aktiven Sabbatier weit mehr als alle ökumenischen Gehversuche in die Zukunft.
Oft fragen ihn Leute, was er denn nun gelernt habe in all den Jahren. Sie wollen wissen, wo wir »wachsam« sein müssen und wo wir »wacker« handeln sollen. Heiner schmunzelt, so wie einst, als er die drei Murmeln in seiner Tasche entdeckte. Vieles bleibt wohl ein Geheimnis, er will immer ein Lernender bleiben, aber eines sagt er sehr entschlossen: »Wir haben dieser Welt nur etwas zu sagen, wenn wir Gott hören. Der verborgene Ort, der Rückzugsort, die Krypta unseres Lebens wird darüber entscheiden, wie groß unser Einfluss und unsere Auftrittsorte in dieser Welt sein dürfen. Ich ziehe mich gern zurück, um ganz präsent zu sein!«
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Dr. theol. Heinrich Christian Rust |
(*1953) war als Pastor über 40 Jahre im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden im Gemeindedienst und überregionalen Aufgaben aktiv. Heute betätigt
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