Als sie zum Lieferwagen zurückkamen, war auch Stefan in den Laderaum geklettert. Er neckte seine Schwester, indem er sie immer wieder leicht boxte und auswich, bevor sie ihn fassen konnte. »Hör auf damit, Knüsel!« sagte Martina. »Es ist dir gelungen, deinen Kopf durchzusetzen, Claudia! Du darfst mit Vati nach Dinslaken zurück.«
Zu ihrer Überraschung reagierte Claudia gar nicht erfreut, sondern eher erschrocken. »Ich allein?« fragte sie.
»Wer sonst? Stefan gefällt’s in Düsseldorf, und ich muß hier arbeiten.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Hör mal, wenn du es dir natürlich anders überlegt hast . . . Dann will ich aber keine Drohungen mehr hören.«
Claudia schob das kleine Kinn vor. »Ich bleibe bei Vati.«
»Also komm. Dann wollen wir deine Sachen holen.«
Claudia schüttelte den Kopf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Sie denkt, du willst sie nur runterlocken«, erklärte Stefan. »Sie denkt, das ist ’ne Falle.«
»Dann gebe ich Vati deinen Koffer.« Martina blieb vor dem Laderaum stehen. »Willst du mir nicht wenigstens zum Abschied einen Kuß geben?«
Claudia rührte sich nicht von der Stelle, und Martina verstand, daß sie auch jetzt wieder einen Trick witterte.
»Mach’s gut, alte Ziege!«
Stefan gab der Schwester einen freundlichen Rippenstoß, bevor er vom Auto sprang.
»Ja, mach’s gut, Liebling, vertrag dich mit Vati! Und wenn es nicht so klappen sollte . . . Du weißt, dein Zimmer hier steht immer für dich bereit.«
Martina wandte sich rasch ab; es war ihr bewußt geworden, wieviel sie hatte zerschlagen müssen, um sich ein neues Leben aufzubauen.
Stefan fest an der Hand haltend und ohne sich noch einmal umzuschauen, schritt sie auf ihr neues Heim zu.
Die nächsten Tage verbrachte Martina damit, ihr Haus so wohnlich wie möglich zu gestalten.
Auf der Bank erfuhr sie, daß Helmut ihr die Abfindung tatsächlich überwiesen hatte. Sie besaß 36 000 DM und fühlte sich reich. Jetzt konnte sie Dr. Scholz den Baukostenzuschuß überweisen und sich auch einige Einrichtungsgegenstände kaufen, die ihr noch fehlten: einen Tisch für ihr Wohnzimmer, einen Schreibtisch für Stefan und ein Radio, denn den alten Apparat hatte sie Helmut überlassen.
Das Einrichten und Einkaufen machte Spaß, und als Ostern kam, hatte Martina alles so, wie sie es haben wollte: sehr einfach und etwas provisorisch zwar, aber hübsch.
Ostern war das erste Fest, das sie ohne ihren Mann und ihre Tochter feierte. Sie hatte es sich sehr fröhlich vorgestellt, und es fing auch ganz vergnügt an. Ganz früh war sie aufgestanden, um die bunten Eier für Stefan im Garten zu verstecken, und sie suchten sie später unter großem Hallo. Danach frühstückten sie ausgiebig, mit Eiern und selbstgebackenem Napfkuchen, brachten die Küche in Ordnung, legten die Betten aus und unternahmen anschließend einen langen Spaziergang, quer durch den Park des Benrather Schlosses und dann am Rhein entlang. Wieder zu Hause, machte Martina sich daran, das Mittagessen zu bereiten. Statt des früher üblichen Bratens gab es panierte Schnitzel und Kartoffelsalat, Stefans Lieblingsgericht, und zum Nachtisch Eis. Sie waren noch dabei, die Küche aufzuräumen, als Dieter Schwarzenbachs roter Schopf oben auf der Mauer zum Nachbargrundstück erschien.
»Komm rüber, Stefan!« rief er durch das weit offene Küchenfenster. »Wir wollen eierlaufen!«
Martina ließ den Jungen nicht gerne gehen; sie hatte sich den Ostersonntag mit ihm so schön ausgemalt. »Möchtest du denn gern?« fragte sie zögernd.
»Wenn du lieber willst, daß ich bei dir bleibe . . . «, entgegnete Stefan höflich. Aber es war ihm anzusehen, wie schwer es ihm fiel. Martina überwand sich. »Aber nein . . . warum denn?«
Daß Stefan ihr daraufhin einen raschen Kuß gab, zeigte ihr deutlicher, als ein Wort vermocht hätte, wie froh er war, davonzukommen. Das tat weh, aber sie wußte, daß dieser Schmerz mütterlicher Egoismus war und ließ ihn sich nicht anmerken. »Klettere nicht über die Mauer!« rief sie ihm nach. »Nicht in deinen guten Sachen, hörst du? Lauf außen rum.«
Dann war sie allein. Sie filterte zwei Tassen Kaffee, stellte sich den alten Liegestuhl – auch ein Überbleibsel der Vorbesitzer – auf einen Platz in der Sonne, nahm ein Buch in die Hand und machte es sich gemütlich. Sie konnte sich kaum erinnern, daß sie am hellen Tag einmal Zeit für sich selber gehabt hatte. Aber sie konnte nichts Rechtes damit anfangen. Zwar war sie nicht unglücklich, dazu war das Bewußtsein, vor einem neuen Anfang zu stehen, doch zu stark, aber sie fühlte sich sehr allein.
Vom Nachbargrundstück klangen fröhliche Stimmen herüber; Stefan amüsierte sich prächtig ohne sie. Claudia hatte auf das Zusammenleben mit ihr sogar ganz verzichtet. Es gab niemanden, der sie brauchte.
Sonst hatte sie die Osterfeiertage immer im Kreis der Familie verlebt. Am Sonntag waren sie zu den Schwiegereltern, am Montag nach Essen gefahren. Ohne Spannungen und Reibereien war das allerdings nie abgegangen, und mehr als einmal hatte sie den Alltag, an dem Helmut tagsüber außer Haus war, herbeigesehnt.
Wünschte sie sich also in die Familie zurück? Bestimmt nicht. Sie hätte ja auch mit Stefan ihre Mutter und Großmutter besuchen können, aber dazu hatte sie keine Lust gehabt. Was war es also dann? Sie fühlte sich isoliert. Frau Gardener hatte ihr zwar einen kurzen Besuch gemacht, ohne jedoch anzudeuten, daß sie einen nachbarschaftlichen Verkehr wünschte. Irene Klose hatte sich, seit sie eingezogen war, noch nicht gemeldet und war sicher froh, endlich mal Zeit für ihren Mann zu haben. Sonst kannte sie niemanden hier. Von Dr. Scholz hatte sie nicht einmal die Adresse. Sie hätte auch niemals den Mut gefunden, ihn einfach anzurufen.
Sollte sie die Nummern der jungen Frauen durchgehen, mit denen sie auf der Kosmetikschule gewesen war? Das wäre doch läppisch! Mit keiner von ihnen stand sie so gut, daß ihr tatsächlich etwas an ihrer Gesellschaft gelegen hätte.
Alleinsein, das erkannte Martina, mußte man lernen, wenn man sich aus den familiären Bindungen gelöst hatte, um seinen eigenen Weg zu gehen.
Als sie ihren Kaffee getrunken hatte, legte sie das Buch zur Seite und stand auf. Es war ihr eingefallen, daß sie sich einen Stoff für ein Sommerkleid gekauft hatte. Zwar hatte sie nicht vorgehabt, sich ausgerechnet Ostern damit zu befassen, aber jetzt hatte sie plötzlich Lust dazu.
Sie trug den Küchentisch ins Freie, holte Stoff und Schnittmusterbogen und machte sich ans Zuschneiden. Dabei verflog das Gefühl von Einsamkeit sehr rasch, und als Stefan nach Hause kam, fand er seine Mutter, fröhlich trällernd, an der Nähmaschine.
Auch Helmut Stadelmann benutzte den Ostersonntag zum Werken, wenn auch nicht allein und nicht in so guter Laune wie seine geschiedene Frau.
Eigentlich hatte er für die Feiertage ganz andere Pläne gehabt. Claudia hatte er schon am Karfreitagabend zu seiner Mutter bringen wollen, wo sie inmitten einer großen Verwandtschaft bestimmt eine fröhliche Zeit gehabt hätte. Aber das Kind hatte sich energisch geweigert, ohne ihn bei der Großmutter zu bleiben, und hatte ihm eine ihrer inzwischen schon berühmt gewordenen Szenen »hingelegt«. So war auch sein anderes Vorhaben, mit Susi Dinkler nach Holland zu fahren, geplatzt.
Susi hatte es mit Verständnis aufgenommen. »Ich finde Claudias Verhalten ganz natürlich. Sie leidet eben unter eurer Scheidung. Jetzt klammert sie sich an dich, aus Angst, dich auch noch zu verlieren.«
Sie war es auch gewesen, die Claudia einen hübschen Schrank und ein Bett gebracht hatte, großzügige Geschenke, über die Claudia jedoch alles andere als erfreut gewesen war, denn sie ahnte, was Susi damit bezweckte: sie aus dem ehelichen Doppelbett herauszutreiben.
Claudia hatte sich neben ihrem Vater sehr wohl gefühlt und wollte sich nicht ohne Widerstand von diesem Platz vertreiben lassen. Um ihr den Auszug ins eigene Zimmer schmackhaft zu machen, waren sie nun alle drei dabei, das ehemalige Kinderzimmer neu zu tapezieren,