»Ich hab’ dich überhaupt nicht mehr lieb!« Claudia warf ihre Zöpfe in den Nacken und stolzierte davon, blieb aber nach wenigen Schritten wieder stehen. »Könnten wir nicht wenigstens die Türen auflassen, Vati? Meine und deine? Damit ich mich nicht so zu fürchten brauche?«
»Kommt gar nicht in Frage. Die Türen bleiben zu. Schlaf gut, Liebes.«
»Du auch.« Claudia seufzte tief, trat in die kleine Diele hinaus und zog die Tür hinter sich zu, ohne sie ganz zu schließen.
»Richtig zumachen!« rief der Vater ihr nach.
Endlich schnappte das Schloß ein. Aber jetzt konnte Helmut nicht wieder einschlafen. Er überlegte, ob er nicht doch zu hart gewesen war. Claudia war der einzige Mensch, der wirklich zu ihm gehalten hatte. Außer Susi Dinkler natürlich. Aber mit Susi war das etwas anderes. Die wollte etwas von ihm, wenn sie es auch nicht aussprach. Susi wollte ihn heiraten, soviel war sonnenklar. Aber das kam gar nicht in Frage. Seine Erfahrung mit der Ehe hatte ihm genügt, und er hatte teuer genug dafür bezahlen müssen und mußte es immer noch. Nein, eine Wiederheirat war ausgeschlossen. Er würde mit Claudia alleinbleiben. Warum war er dann so grob zu ihr gewesen? Nur Susis wegen. Susi hatte ihm in den Ohren gelegen, wie wichtig es wäre, daß Claudia sich daran gewöhnte, allein zu schlafen. Aber soviel lag ihm ja gar nicht an Susi, weniger jedenfalls als an seiner Tochter.
Helmut stand auf, schlüpfte in seine Pantoffeln und tapste zu Claudias Zimmer. »Ich bin’s!« rief er leise, damit sie nicht erschrak.
Doch Claudia hörte ihn gar nicht. Obwohl er Licht gemacht hatte, schlief sie tief und fest, mit trotzig zusammengepreßten Lippen und den Spuren getrockneter Tränen auf den Wangen. Schwierig, das Leben mit seiner kleinen Tochter. Aber sie würden schon miteinander auskommen. Susi Dinkler sollte es jedenfalls nicht gelingen, sich zwischen sie zu schieben.
Auch Stefan, der sich so leicht in Düsseldorf eingelebt hatte, litt unter der Scheidung der Eltern. Eines Nachts hörte Martina ihn laut schreien. Sie war noch auf gewesen und hatte gelesen. Alarmiert lief sie in sein Zimmer.
»Vati! Vati!« schrie er und schlug mit den Armen um sich; sein Gesicht war sehr rot.
Martina beugte sich über ihn und packte ihn bei den Schultern. »Stefan, bitte, komm zu dir! Stefan, wach auf!«
Aber es dauerte eine ganze Weile, bis er in die Wirklichkeit zurückfand. »Was ist?« fragte er und blickte Martina aus verschlafenen braunen Augen an, erschrak dann und rief: »Brennt’s wo?«
»Nein, nein, du hast nur schlecht geträumt.«
»Ich!?«
»Natürlich du. Du hast geschrien. Deshalb habe ich dich ja geweckt.«
Sie legte ihm die Hand auf die Stirn und war erleichtert, als sie feststellte, daß er kein Fieber hatte.
»Ich hab’ geschrien? Na so was?«
»Du mußt etwas sehr Schlimmes geträumt haben, Knüsel. Erinnerst du dich nicht mehr?«
»Nö.«
Sekundenlang war Martina erleichtert, dann aber dachte sie, es sei wohl besser, die Ängste des Unterbewußtseins ans Licht zu bringen. »Jedenfalls hast du nach Vati gerufen«, erklärte sie mit Überwindung und beobachtete ihn dabei aus den Augenwinkeln.
Stefan zeigte sich nicht beeindruckt. »Komisch«, sagte er nur.
»Denkst du oft an Vati?« fragte sie. »Ich meine, hast du Sehnsucht nach ihm?«
»Weiß ich nicht.«
»Aber, Knüsel, das mußt du doch wissen.«
»Hab’ noch nicht darüber nachgedacht.«
»Dann tu’s jetzt mal. Mir zuliebe.«
»Na ja.« Stefan legte in der Anstrengung des Nachdenkens die Stirn in waagrechte Falten. »Ein Mann im Haus, das hat schon was für sich. Aber sonst . . . Ohne Vati ist es friedlicher, nicht?«
»Und denkst du nicht manchmal, daß ich schuld bin, daß alles so gekommen ist?« Sie fuhr ihm zärtlich mit den Fingern durch die braunen wirren Locken.
Ausnahmsweise ließ er es ohne Widerstand zu. »Du läßt dir eben nichts gefallen.« Es schwang ein kleiner Stolz in seinen Worten.
Martina küßte ihn rasch auf die Stirn. »Du bist ein lieber Kerl, Knüsel! Paß auf, jetzt mach’ ich dir noch rasch ein Glas Milch warm. Mit Zucker.«
»Kakao!« verlangte Stefan.
»Von mir aus auch Kakao! Und dann schläfst du wieder. Diesmal möglichst, ohne dumme Sachen zu träumen.«
»Mach ich! Nur . . . «
»Was?«
» . . . ich hab’ plötzlich so ein hohles Gefühl im Bauch! Könnte ich nicht vielleicht noch ein Butterbrot kriegen?«
Martina lachte. »Genehmigt!«
Später, als sie an seinem Bett saß und zusah, wie er mit gutem Appetit die nächtliche Mahlzeit verschlang, fragte sie: »Und was ist mit Claudia? Vermißt du sie sehr?«
»Ach die!« erwiderte er mit vollem Mund. »Die kommt sowieso zurück.«
»Wie kommst du darauf?« fragte Martina.
»Na, wenn du’s nicht mit Vati ausgehalten hast, dann die doch erst recht nicht.«
»Du bist mir schon einer!«
»Wenn’s doch wahr ist!«
»Wollen wir hoffen, daß du recht behältst. Du weißt, wie oft ich mich über sie geärgert habe. Aber sie fehlt mir sehr.«
»Wir könnten ihr ja mal wieder schreiben.«
»Du, das machen wir. Gleich morgen. Und wir beide, wir wollen ganz fest Zusammenhalten, ja?«
»Klar, Mutti. Ehrensache.«
Er blickte sie so treuherzig an, daß sie ihn am liebsten in die Arme genommen und abgeküßt hätte. Aber sie wußte: zuviel Überschwang würde ihr gutes Verhältnis nur belasten. So sagte sie, als sie ihm das Tablett abnahm, nur ganz trocken: »Jetzt sei so freundlich und putz dir nochmals die Zähne, ja? Sonst war das die letzte Abendmahlzeit, die ich dir serviert habe!«
»Das hat gutgetan.« Stefan rieb sich wohlig den Magen. »Weißt du was, Mutti, du könntest mich jede Nacht wecken und mir was zum Futtern bringen. Überhaupt komisch, daß die Menschen nachts nicht verhungern.«
»Sehr komisch. Aber jetzt marsch!«
Er sprang vergnügt aus dem Bett. »Ich muß sowieso noch mal!« Während Martina ihrem Sohn das Bettzeug richtete, dachte sie, wie dankbar sie doch sein mußte, daß er so unkompliziert war.
Martina hatte ursprünglich vorgehabt, den Jungen in einem Tagesheim unterzubringen, aber seine Freundschaft mit Dieter Schwarzenbach brachte sie auf eine andere Idee.
Die Schwarzenbachs wohnten im Erdgeschoß eines nach dem Krieg neu errichteten Mietshauses in der Calvinstraße und hatten, abgesehen von einem Teppichklopfplatz, der allen Mitbewohnern zur Benutzung freistand, den großen Garten für sich zur Verfügung. Herr Schwarzenbach arbeitete bei Henkel, und seine junge Frau war durch drei Kinder – Dieter war das älteste – ans Haus gebunden. Sie war gerne bereit, Stefan tagsüber, bis Martina nach Hause kam, zu betreuen, um so mehr, als sie sich dadurch ein Taschengeld verdiente. Martina nahm an, daß sie seine Verpflegung vom Haushaltsgeld abknapsen und den Betrag, den sie als Entgelt für Stefans Betreuung erhielt, für Sonderausgaben beiseite legen würde. Es war für alle, für Martina, Frau Schwarzenbach und die beiden Jungen, eine zufriedenstellende Regelung.
Martina hatte den Kopf frei für ihre Arbeit. Allerdings erwies sich ihre Tätigkeit im Kosmetikinstitut Heerdegen als eine Enttäuschung. Die Praktikantinnen bekamen stets die unbeliebtesten Arbeiten, so etwa die Akne-Behandlungen bei pubertären Jugendlichen, zugeschoben, Behandlungen, die schwierig und unangenehm waren;