Ihr Leben war ihr ganz schön um die Ohren geflogen, und Verunsicherung und Angst waren keine guten Wegbegleiter. Sie traute sich kaum noch aus dem Haus, wenn sie Geräusche hörte, zuckte sie zusammen.
Alle waren sie rührend um sie bemüht, doch die Albträume konnte ihr niemand nehmen. Es war ihr richtig unangenehm, so neben der Spur zu sein.
Wie lange sollte es so weitergehen?
Das Leben ging weiter, und das durfte nicht aus Angst bestehen, sie war wie gelähmt. Was war aus der fröhlichen Inge geworden? Ein Wrack, das bei jedem Klingeln an der Tür, bei jedem Telefonanruf zusammenzuckte.
Sie konnte auch nur sehr schlecht allein sein, aber Werner, Pamela und ihre Eltern konnten sich nicht ständig bei ihr aufhalten. Inge schlitterte in eine Depression hinein, nicht einmal Fotos und Nachrichten von der kleinen Teresa konnten sie aufheitern.
Es war ein schreckliches Leben, in das sie da unfreiwillig hineingeraten war.
Zum ersten Mal seit diesem Zwischenfall war Inge allein im Haus, und sie achtete auf alle Geräusche. Hatte der Verbrecher das mitbekommen? Würde er ins Haus eindringen?
Es waren schreckliche Gedanken, die jeder Grundlage entbehrten, aber sie kam nicht davon los.
Als es an der Haustür klingelte, zuckte sie zusammen.
Sie machte nicht auf, doch wer immer da vor der Tür stand, ließ sich nicht abweisen. Langsam schlich sie in den Flur. Es klingelte wieder, heftiger, dann wurde gegen die Tür geklopft. Inge erstarrte.
»Frau Auerbach, bitte machen Sie auf, ich muss mit Ihnen reden …, hier ist Fangmann.«
Die Angst fiel von ihr ab, sie öffnete mit zitternden Fingern die Tür. Sie war bleich, starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Man konnte wirklich Mitleid mit ihr haben.
»Frau Auerbach«, begann er sofort, »ich habe gute Nachrichten für Sie. Können wir uns setzen?«
Sie nickte, blickte ihn hoffnungsvoll an, dann führte sie ihn ins Wohnzimmer, bot ihm etwas zu trinken an. Das lehnte er ab.
Und dann hatte er wundervolle Neuigkeiten für sie. Dank ihrer DNA-Sicherung hatte man nicht nur diesen Verbrecher gefasst, sondern auch seine Komplizen.
»Der Mann heißt Hubert Drewe, gegen den läuft bereits ein Haftbefehl, den wir nicht zustellen konnten, weil er untergetaucht war. Bei ihm und seinen Komplizen kommt eine ganze Mange zusammen, Diebstahl, Einbruch, Körperverletzung, Versicherungsbetrug, hinzu kommen ein paar andere Delikte, und bei Drewe noch der Mordversuch an Ihnen. Um Strafminderung zu bekommen, hat er ausgepackt und gesungen wie ein Vögelchen und gnadenlos die anderen verpfiffen. Dieser Drewe ist einer, der über Leichen geht. Aber Sie müssen jetzt keine Sorgen mehr haben, Frau Auerbach, Drewe wird für lange Zeit hinter Gittern sitzen, und ich glaube nicht, dass er es danach noch einmal versuchen wird, Ihnen zu nahe zu treten. Wenn er irgendwann einmal freikommt, wird ihm ein Bewährungshelfer zur Seite gestellt, und dem muss er über Schritt und Tritt Rechenschaft ablegen.«
Inge starrte den Kommissar an, es war nicht zu fassen, es war zu schön, um wahr zu sein. Sie war glücklich und erleichtert. Sie begann zu weinen.
Henry Fangmann, der mit Schwerstverbrechern umgehen konnte, hatte ein Problem mit Frauentränen.
»Frau Auerbach, liebe Frau Auerbach, ich dachte, Sie freuen sich, wenn ich Ihnen das erzähle. Ich bin extra persönlich hergekommen.«
Sie wischte sich die Tränen weg, versuchte ein schiefes Lächeln.
»Aber ich freue mich doch, Herr Fangmann, Sie glauben überhaupt nicht, wie sehr ich mich freue.«
Der Kommissar blickte sie ein wenig verunsichert an, da kannte sich doch einer mit den Frauen aus.
Er wiederholte, dass das einzig und allein ihr zu verdanken sei, dass man diese Männer gefasst hatte. Er lobte sie, sprach lauter Nettigkeiten aus. Inge hatte dafür kein Ohr.
»Herr Fangmann, ich brauche jetzt dringend einen Kaffee«, sagte sie, und sie freute sich, als er sagte: »Den kann ich ebenfalls gebrauchen.«
Er war ein Netter, das hatte sie sofort erkannt, und dass er Kaffee auch liebte, das machte ihn noch sympathischer. Und weil das so war, dann bat sie ihn auch direkt in ihre schöne große Wohnküche, dort fühlte sie sich wohler, und sie war sich beinahe sicher, dass es ihm ebenfalls so gehen würde.
Der Albtraum war vorüber! Also, diesen Tag würde sie sich rot im Kalender einzeichnen, das stand schon mal fest!
*
Von der ganzen Aufregung hatte natürlich auch Roberta so einiges mitbekommen, doch sie hatte keine Angst gehabt. Bei ihr hatte niemand etwas ausspioniert, und wenn niemand im Haus war, da gab es eine gut funktionierende Alarmanlage, die direkt mit der Polizei verbunden war. Das hatte die Versicherung so verlangt, weil gern in Arztpraxen eingebrochen wurde. Mit illegalen Medikamentenverkäufen ließen sich gute Geschäfte machen, besonders wenn es sich um Opiate handelte.
Aber es war gut, dass der Spuk vorbei war, manche ihrer Patienten waren richtig hysterisch gewesen, nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sie all die gewünschten Beruhigungstabletten verschrieben hätte. Für die Apotheken wäre es auf jeden Fall ein Boom gewesen. Es war schon gut für alle Bewohner, dass der Spuk jetzt vorbei war, und Inge Auerbach, chapeau, die hatte großartig reagiert, aber Glück gehabt hatte sie auch.
Als es bei Roberta klingelte, eilte sie zur Tür. Sie wusste, wer da Einlass begehrte. Roberto Andoni hatte seinen Besuch angekündigt, er wollte unbedingt mit ihr reden. Und Roberta sah diesem Gespräch mit recht gemischten Gefühlen entgegen. Sie mochte ihn gern, er war ihr Freund. Warum er heute zu ihr kam … Den Grund ahnte sie, man musste kein Hellseher sein.
»Hallo, Roberta, ich bin etwas früher, ich hoffe, es macht dir nichts aus«, begrüßte er sie. »Doch ich muss beizeiten wieder im ›Seeblick‹ sein, weil sich eine größere Gesellschaft angekündigt hat. Aber es ist mir sehr wichtig, das jetzt loszuwerden. Ich will nicht, dass es dir von anderer Seite zugetragen wird. Du weißt, welch unangenehme Folgen das haben kann, denk an die Geschichte mit der kleinen Auerbach. Auch wenn die gravierender war, so sind wir doch eng genug befreundet, um ganz offen und ehrlich miteinander umzugehen.«
Roberta führte ihn ins Wohnzimmer, trinken wollte er nichts, und Roberto hielt sich auch nicht lange mit der Vorrede auf, sondern er sprach das aus, was sie vermutet und zugleich befürchtet hatte. Die Tage der Andonis im ›Seeblick‹ waren gezählt!
Etwas zu vermuten und dann mit den nackten Tatsachen konfrontiert zu werden, das war ein gewaltiger Unterschied, ein ganz gewaltiger sogar. Roberta musste erst einmal schlucken. Er sah, wie sie das bewegte.
»Roberta, es ging auf einmal ganz schnell. Bei diesem Landgut in der Toscana musste ich eine Entscheidung treffen, sonst wäre es mir durch die Lappen gegangen. Und so etwas bekommt man nicht alle Tage angeboten, das ist ein Schnäppchen, in jeder Hinsicht. Zuerst zögerte ich ja noch, doch als dann Susanne mit der wunderbaren Neuigkeit kam, dass wir ein zweites Kind haben würden, da musste ich nicht mehr überlegen, da war die Entscheidung gefallen. Jetzt ist alles in trockenen Tüchern, die Verträge sind unterschrieben, der Kaufpreis ist bezahlt.«
»Und der ›Seeblick‹?«, wandte Roberta ein.
»Ach, da sieht es ebenfalls ganz gut aus. Es gibt mehrere ernsthafte Interessenten, eine Kette, die einen Burgerladen eröffnen will, ein Chinese, der aus dem ›Seeblick‹ ein Chinarestaurant machen will, er hat bereits mehrere, ein Konzern möchte aus dem ›Seeblick‹ ein Steakhaus machen. Aber ich glaube, ich habe mich entschieden, obwohl die Genannten mehr lukrativere Angebote gemacht haben. Doch Geld ist nicht alles, und der ›Seeblick‹ liegt mir wirklich am Herzen, ich habe ihn mit viel Herzblut zu dem gemacht, was er ist.«
Er wollte nun doch etwas trinken, und Roberta beeilte sich, ihm das gewünschte Wasser zu bringen, das sie ebenfalls gebrauchen konnte, weil sie schon einen ganz trockenen Hals hatte.
Roberto