Zu lebendig zum Sterben - Skandinavien-Krimi. Kirsten Holst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kirsten Holst
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726569490
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dass es hier kaum anders war, sodass es sicher darauf hinauslaufen würde, dass ich wieder aufhörte, aber nicht gleich.

      Es war seltsam still hier. Ich hörte nur das Glucksen des Wassers gegen das Bollwerk, die Schreie der Möwen und in der Ferne wie ein schwaches Dröhnen den Verkehr.

      Ich blies einen dünnen Streifen Rauch in die Luft und betrachtete durch ihn hindurch die Aussicht. Rechts von mir lag die Eisenbahnbrücke und etwas weiter entfernt die Straßenbrücke. ›Die neue feste Brücke‹, wie Großmutter sie immer genannt hatte. In ihrer Kindheit – vor fast hundert Jahren – war dort eine Pontonbrücke gewesen, weshalb die Straßenbrücke für sie immer ›die neue feste Brücke‹ blieb.

      Auf der anderen Seite des Fjords konnte ich die Bäume von Skansen und direkt unter ihnen die funktional gebauten Häuser sehen, in denen Großmutters Freundin, Tante Eja, gewohnt hatte. Manchmal besuchten wir, Allie und ich, sie zusammen mit Großmutter und jedes Mal wunderte ich mich darüber, dass die kleine, muntere, lebhafte Tante Eja und meine große, strenge Großmutter Freundinnen waren. Manchmal, glaube ich, wunderte das auch sie.

      Weiter unten links erahnte ich etwas von der Kirche, in der Allie und ich getauft worden waren. Großmutter hatte das durchgesetzt. Ich war fast ein Jahr und Allie muss knapp sieben gewesen sein. Es war das erste Mal – aber bei weitem nicht das letzte –, dass unsere Eltern uns der Obhut unserer Großmutter überließen und von ihrer Seite war es die reinste Erpressung. »Ich passe nur unter der Bedingung auf sie auf, dass sie getauft werden. Ich will nicht die Verantwortung für ein paar ungetaufte Kinder.«

      Vater begehrte auf. Er war gegen die Kindstaufe. Seiner Meinung nach war das nichts als sentimentaler Unsinn, doch war ihm für drei Monate eine Stiftungswohnung in Paris angeboten worden und Paris war nicht nur eine Messe, sondern auch eine Kindstaufe wert, sodass Großmutter – wie fast immer, wenn es um uns ging – ihren Willen bekam. Mutter und Vater nahmen noch obendrein an der Komödie teil, wie Vater das nannte. Wir haben ein Foto von dem Tag. Ich gleiche einem fetten, haarlosen Buddha, während Allie mit ihren goldenen Korkenzieherlocken und ihrem halblangen weißen Kleid mit der rosa Schleife um die Taille einem alten englischen Gemälde entsprungen zu sein scheint. Sie sieht aus wie ein Engel.

      In der Kirche benahmen wir uns beide exemplarisch.

      Als Allie an der Reihe war und der Priester sie – mit einem Blick zu Großmutter hin – fragte, ob sie dem Teufel und all seinen Werken entsagen wollte, knickste sie höflich und sagte Ja, danke. Sowohl der Priester wie auch mein Vater mussten zu Großmutters großem Ärger lachen, während Großvater, der schwerhörig war, verständnislos von einem zum anderen sah, ohne einen Ton von dem zu verstehen, was vor sich ging.

      Meine Augen wurden nass, während ich dasaß und vor mich hin starrte. Ich schniefte und trocknete mir die Augen.

      Der Klang von Stimmen ließ mich den Kopf drehen. Zwei große Burschen mit einem kleineren im Schlepptau kamen eifrig diskutierend aus der Bootshalle. Gymnasiasten, schätzte ich.

      »Er hätte ruhig ein bisschen früher anrufen können«, sagte der Kleinste irritiert.

      »Jetzt sei mal ein bisschen vernünftig, Anders«, sagte einer der anderen. »Das ist wohl nicht das Erste, woran man denkt, wenn man mit einem gebrochenen Arm in der Unfallstation sitzt.«

      »Ich hätte das getan«, behauptete der Junge, der Anders hieß. »Du nicht auch, Martin?« Er wandte sich an den dritten.

      »Nee. Ich habe kein Handy. Außerdem hätte das nichts gebracht. Es wäre trotzdem zu spät gewesen, um einen Ersatz zu finden.«

      Sie waren von ihrem Gespräch so in Anspruch genommen, dass sie mich erst jetzt sahen. Sie starrten mich ungeniert an, als wäre ich ein merkwürdiges Tier.

      »Hei, Mutter!«, rief Anders.

      Mutter! Nicht Schwester. Genau das hatte mir noch gefehlt. Zuerst erinnerte mich Henrik daran, dass ich auf der falschen Seite der dreißig stand und jetzt Mutter! Was zum Teufel bildete der kleine Rotzlöffel sich eigentlich ein?

      Ich sah ihn drohend an. »Nenn mich noch einmal Mutter und du fängst dir eine ein!«

      Sie starrten mich verblüfft an und ich bereute die Worte in dem Moment, in dem ich sie ausgesprochen hatte. In Philadelphia bedurfte es weniger, um zusammengeschlagen zu werden, und sie waren zu dritt.

      Ich beeilte mich zu lächeln, um zu zeigen, dass das nur ein Witz gewesen war.

      Glücklicherweise grinsten alle drei. »Entschuldigung, die Dame, Entschuldigung! Nichts für ungut!«, sagte Anders.

      Ich fand Dame nicht viel besser, aber ich ließ es durchgehen.

      Sie schlenderten weiter zu dem Weg und blieben eifrig diskutierend an der Ecke des Klubhauses stehen. Der, der Martin hieß, drehte sich um und rief mir irgendetwas zu, das ich nicht verstand. Es klang, als würde er fragen, ob ich rodeln könnte.

      »Ob ich was kann? Ich habe es nicht verstanden.«

      »Rudern!«, rief er. »Ich habe gefragt, ob Sie rudern können!«

      »Ja, kann ich«, rief ich zurück.

      Er kam zu mir und die anderen folgten ihm leicht widerstrebend.

      »Stimmt das? Können Sie rudern?«, fragte er. Es klang noch immer wie rodeln.

      Ich lenkte ein wenig ein. »Jedenfalls konnte ich das, aber es ist zehn Jahre her, seit ich das letzte Mal gerudert habe.«

      »Was haben Sie gerudert?«

      »Einen Vierer mit Steuermann. Warum?«

      »Glauben Sie, Sie können das noch?«

      »Ja, davon gehe ich aus. Das ist doch wie Radfahren. Wenn man es erst einmal kann, verlernt man es nicht mehr. Aber ich bin überhaupt nicht in Form und du hast nicht gesagt, warum du das wissen willst.«

      Aber ich hatte natürlich eine qualifizierte Vermutung.

      »Uns fehlt eine Reserve«, erklärte er. »Unser Erster hat sich den Arm gebrochen. Wir haben es eben erst erfahren.«

      »Was rudert ihr?«

      »Auch einen Vierer.«

      »Und wo ist euer Steuermann?«

      »Wir rudern ohne Steuermann.«

      »Ohne Steuermann. Dann ohne mich. Das kann ich nicht. Das habe ich nie ausprobiert.«

      »Einmal ist immer das erste Mal.«

      »Hast du nicht gerade gesagt, dass sich euer Erster den Arm gebrochen hat?«

      »Ja, aber ...«

      »Dann vergesst es! Soweit ich mich erinnere, steuert der Erste, wenn ohne Steuermann gerudert wird.«

      »Ja, aber Joachim kann gut den Platz des Ersten übernehmen«, sagte er eifrig und nickte zu ihm hin. Er hatte noch kein Wort hervorgebracht. »Dann übernehmen Sie seinen Platz. Er ist der Zweite. Das ist auch gut für’s Gleichgewicht, denn Anders, der kleine Knirps, ist der Dritte.«

      Der kleine Knirps war de facto etwas größer als ich. Das stellte ich später fest und ich bin eins siebenundsiebzig. Er sah nur im Verhältnis zu den anderen klein aus.

      »Ich weiß nicht recht«, sagte ich zögernd.

      Ich sah über den Fjord hinaus. Es könnte schon Spaß machen, es noch einmal zu versuchen. Nur ein einziges Mal.

      »Ich bin nicht Mitglied«, sagte ich.

      »Das brauchen Sie beim ersten Mal auch nicht. Wir können einmal zur Probe rudern, ob es funktioniert. Dann können Sie ja immer noch Mitglied werden.«

      Sie mussten verrückt sein, wenn sie glaubten, ich würde regelmäßig mit ein paar Gymnasiasten rudern, die mich Mutter genannt hatten!

      Ich sah noch einmal über das Wasser, dann holte ich tief Luft und drehte mich zu ihnen um. »Okay. Aber nur dieses eine Mal! Mit mehr könnt ihr nicht rechnen.«