Zu lebendig zum Sterben - Skandinavien-Krimi. Kirsten Holst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kirsten Holst
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726569490
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gewissen Vorbehalten. Aber willst du mir nicht bitte erklären, warum du mir diesen Job anbietest?«

      Und Gott steh mir bei, er fing wieder mit seinen Fingerübungen an. »Weil du ein fast fertiges Psychologiestudium hast, weil du über dreißig bist, weil ...«

      Ich legte meine Hände um seine. »Hör auf damit. Das macht mich wahnsinnig.«

      Verwundert sah er erst seine Hände und dann mich an. »Tut es das?«

      »Ja.«

      »Aber ich muss das tun. Das mache ich immer.«

      »Ja, ich weiß.«

      Er zog die Hände zu sich. Ich wette zehn zu eins, dass er unter dem Tisch an den Fingern abzählte.

      »Du kannst total anonym arbeiten, die berühmte Fliege an der Wand, sollte das nötig sein. Du bist so lange fort gewesen, dass dich niemand kennt. Du bist zwar klug, aber ich glaube nicht, dass du so genial bist, dass die Uni sich auf dein Gesuch stürzt und schreit: Halleluja, die müssen wir sofort haben! Ein halbes Jahr werden wir dich wohl mindestens behalten dürfen und vielleicht bleibst du ja. Du hast einen gesunden Menschenverstand und dann ist da deine berühmte Intuition. Früher war das jedenfalls so.«

      »Jetzt sind die Minuspunkte plötzlich zu Pluspunkten geworden.«

      »Ich habe nie gesagt, dass das Minuspunkte sind. Das wären sie nur, wenn du dir einen gewöhnlichen Job suchen würdest.«

      »War das jetzt alles?«

      »Nein, ich glaube, dass du super für den Job geeignet bist. Außerdem bist du ehrlich – von den indischen Servietten einmal abgesehen –, das ist ziemlich wichtig in unserer Branche, und du brauchst einen Job, nicht? Von irgendetwas musst du ja leben. Allein das müsste dich dazu bewegen, Ja zu sagen.«

      In diesem Punkt irrte er sich jedoch. Ich brauchte nicht zu arbeiten, um von etwas leben zu können, aber das sagte ich ihm nicht.

      »Mmm«, murmelte ich nur.

      Er nahm meine Hand. »Und außerdem würde ich dich verdammt nochmal gerne öfter sehen. Ich will nicht, dass du einfach wieder aus meinem Leben verschwindest. Als du neulich da draußen vor der Kirche standest ...«

      Ich entzog ihm meine Hand.

      »Es war nett von dir zu kommen«, sagte ich.

      »Ich mochte deine Schwester sehr. Und außerdem wusste ich, dass du da sein würdest.«

      Ich warf ihm einen schnellen Blick zu. Ich hatte Lust, ihn zu fragen, wie es mit Maria lief.

      »Das war eine merkwürdige Beerdigung, nicht?«, sagte ich stattdessen.

      »Warum?«

      »Die meisten waren so jung. Abgesehen von Allies Schwiegereltern, waren fast nur junge Menschen da. Jüngere. Unter vierzig.«

      »Sie war schließlich selbst erst sechsunddreißig.«

      »Ja. Deshalb ist es eigentlich doch nicht so verwunderlich.«

      Aber trotzdem. Für mich waren Beerdigungen immer etwas für ältere Leute. Alte Leute. Hier war die Kirche voller junger Menschen, die bunte Sommerkleider trugen. Alle Pädagogen und Mitarbeiter des Kindergartens, dessen Leiterin sie gewesen war. Ihre alten Freundinnen aus der Schul- und Studienzeit, ihre und Renés Freunde. Und Kinder, Massen von Kindern. Es glich keiner Beerdigung. Es wirkte fast widernatürlich. Aber es war auch widernatürlich, mit sechsunddreißig zu sterben. Und drei kleine Kinder zu hinterlassen. Und einen Mann. Und mich.

      Ich fühlte, wie meine Unterlippe zu zittern begann, presste die Lippen zusammen, räusperte mich und sah über das Wasser.

      Allie war mehr als eine Schwester für mich gewesen. Sie war meine Ersatzmutter, meine beste Freundin, mein fester Halt.

      Ich spürte, dass Henrik mich ansah. Er überlegte wohl, ob er etwas über Allie sagen sollte, aber glücklicherweise verstand er, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Stattdessen nahm er wieder meine Hand und beugte sich ein wenig vor.

      »Also, was sagst du, Bea? Zu dem Job? Wirst du wenigstens darüber nachdenken?«

      Ich nickte. »Wie viel Zeit zum Nachdenken habe ich?«

      »Nicht sonderlich viel«, räumte er ein.

      »Sag schon.«

      »Kannst du mir morgen Bescheid geben?«

      Er verlangte viel. Aber wenigstens hatte er genug Scham im Leib, um ein bedauerndes Gesicht zu machen.

      »Verstehst du, ich hatte nicht das Gefühl, dich gleich nach Allies Beerdigung um ein Treffen bitten zu können, aber jetzt drängt die Zeit.«

      Ich nickte. Wir saßen eine Weile schweigend da. Ich ging seinen Vorschlag in Gedanken durch. Es war nicht viel, was ich erfahren hatte, aber wenn der Job total hoffnungslos war – oder ich –, konnte ich ja einfach abspringen. Das konnte ich auch, falls ich trotz seiner pessimistischen Voraussagen bereits jetzt zum Studium zugelassen werden sollte. Jedenfalls konnte es nicht schaden, es zu versuchen, sagte ich mir.

      Einen Moment später sagte ich das auch zu ihm.

      »Okay, ich sage Ja. Ich kann ja jederzeit wieder abspringen, oder? Ich riskiere also nichts, wenn ich Zusage.«

      Das habe ich wirklich gesagt!

      Gott weiß, wo meine berühmte Intuition in diesem Moment war?

      2

      Ich schlug Henriks Angebot aus, mich zurück in die Stadt zu fahren. »Wie kommst du dann nach Hause? Es ist weit zu laufen.«

      »Ich laufe gerne und außerdem kann ich den Bus nehmen. Jetzt, wo ich schon einmal in der Nähe bin, werde ich ins Kunstmuseum gehen. Es ist Jahre her, dass ich das letzte Mal dort war.«

      Er umarmte mich kurz, fast brüderlich, bevor er sich ins Auto setzte. »Schön, dass du wieder zu Hause bist.«

      Ich lächelte schief. »Hoffen wir, dass du in einem Monat noch das Gleiche denkst.«

      »Das werde ich«, versicherte er. »Wir sehen uns morgen.« Er setzte sich ins Auto und ließ das Fenster herunter. »Ich freue mich wirklich, dass du Ja gesagt hast.«

      Ich nickte. Ich tat das nicht, aber jetzt war es zu spät, das zu sagen.

      Ich wollte eigentlich ins Museum gehen, aber das Wetter war so schön, dass ich stattdessen durch den Hafen schlenderte und mir die Boote ansah, die auf dem Wasser lagen und in den Vertäuungen schaukelten, während der Wind es in den Takelagen wie von hunderten von Schellen klingeln und bimmeln ließ.

      Ich wusste noch immer nicht genau, um was es in meinem neuen Job ging.

      »Das wirst du morgen erfahren«, hatte Henrik gesagt. »Wir treffen uns um neun in meinem Büro. Dann erkläre ich dir, worum es bei dem Ganzen geht und was deine Aufgabe ist.«

      Das war alles, was ich aus ihm herausbekommen hatte.

      Ich landete schließlich bei den Ruderklubs. Die alten Holzgebäude liegen seit undenklichen Zeiten dort. Der Damenruderklub, die Seepfadfinder, der Kajakklub, Ägir und so weiter. Alles sah genauso aus wie immer. Vielleicht ein bisschen heruntergekommener. In den drei Jahren, die ich aufs Gymnasium gegangen war, hatte ich hier gerudert. Rudern und Schwimmen waren die einzigen Sportarten, aus denen ich mir wirklich etwas mache. Allie behauptete immer, das komme daher, dass ich im Zeichen der Fische geboren bin; ich sagte, sie sei geisteskrank, wenn sie an so etwas glaube.

      Das Tor zu dem Weg, der zu dem grasbewachsenen Platz hinter meinem alten Klubhaus führte, stand offen. Ich erlag der Versuchung hineinzugehen und hatte fast das Gefühl, auf verbotenen Pfaden zu wandeln. Die Türen zur Bootshalle standen weit offen, die meisten der Boote schienen drinnen zu sein und nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen.

      Hinten bei dem Bollwerk stand ein Tisch mit ein paar befestigten Bänken. Ich setzte mich auf eine der Bänke und zündete mir eine Zigarette an. Es war