Zu lebendig zum Sterben - Skandinavien-Krimi. Kirsten Holst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kirsten Holst
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726569490
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vielleicht erinnere ich mich falsch«, räumte ich ein. »Vielleicht bin ich nur alt und mürrisch geworden. Ich bin nicht mehr zwanzig und es ist viel passiert. Ich bin selbst eine andere geworden.«

      »Ja?«, Henrik sah mich fragend an, aber ich hatte keine Lust, das Thema zu vertiefen.

      »Kümmere dich nicht um mich. Ich stecke einfach nur in einer Identitätskrise«, sagte ich leichthin und lächelte ihn an.

      Er lächelte nicht zurück, sondern sah mich weiter fragend an. Sein Blick machte mich verlegen. »Warum?«

      Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Henrik, ich mag diese Nabelschau nicht. Vergiss es.«

      »Nein, ich möchte gerne wissen, was du meinst.«

      Ich saß stumm da und guckte in mein Glas, als wäre ich dem versunkenen Atlantis auf der Spur.

      »Es ist nur ...«, begann ich endlich und verstummte.

      »Nur was?«

      »Okay. Vor zehn Jahren war ich Tochter, Schwester und Hausfrau. Und plötzlich bin ich nichts mehr von all dem. Ich bin nicht einmal mehr eine richtige Dänin. Ich spreche anders. Ich bin niemand! Und das ist irgendwie ... Man sollte meinen, das sei Freiheit, aber das ist es nicht ... es ist erschreckend.«

      »Wie meinst du das?«

      »Es ist erschreckend, nirgendwohin zu gehören. Alle Wurzeln sind gekappt. Ich habe das Gefühl, mich im Niemandsland zu bewegen. Wie ... wie eine Koralle. Ich muss einen Platz finden, an dem ich festwachsen kann und ... ich weiß nicht mehr, ob der hier ist.«

      Henrik sah mich forschend an und ich sah über das Wasser, um seinem aufmerksamen Blick zu entgehen.

      »Was ist mit der Wohnung, in der du wohnst?«, fragte er schließlich. »Teilst du sie mit jemandem?«

      Ach so, darüber hatte er sich also Gedanken gemacht. Das sah ihm ähnlich, auf diese Weise zu fragen. Was er in Wirklichkeit wissen wollte, war, ob ich einen Freund hatte.

      »Nein, ich habe sie für mich. Sie ist nicht sehr groß.«

      »Ist es eine Mietwohnung?«

      »Nein, Eigentum.«

      »Also hast du dich in deinem tiefsten Innern entschlossen zu bleiben. Warum hättest du sie sonst gekauft?«

      » ... sagte Dr. Freud.« Ich lächelte ihn ironisch an. »Aber du irrst dich. Ich habe sie gekauft, weil ich irgendwo wohnen musste und weil sie so billig war, dass ich ziemlich sicher sein konnte, sie ungefähr zum gleichen Preis wieder verkaufen zu können, wenn ich es bereuen und mich entschließen sollte zurückzugehen.«

      Die Wahrheit war, dass ich sie gekauft hatte, um mich zu überzeugen, dass Allie wieder gesund würde. Und um sie zu überzeugen, dass ich daran glaubte. Zusammen hatten wir Pläne gemacht, was wir alles unternehmen wollten, wenn sie wieder gesund war. Die Wohnung war unsere Versicherung.

      Natürlich war das dumm. Eine Art Aberglaube. Genau wie damals, als Allie und René ihr erstes Kind erwarteten und Allie einen Versicherungsvertreter kommen ließ. Nachdem er Lebensversicherungen, Unfallversicherungen, Haftpflichtversicherungen und so weiter. für sie beide abgeschlossen hatte, fragte er verwundert und leicht besorgt, ob sie sehr große Angst habe, dass ihnen etwas passierte. »Nein«, antwortete sie. »Jetzt nicht mehr. Jetzt sind wir ja versichert.«

      Weder meine Wohnung noch ihre Versicherungen hatten etwas genutzt.

      »Aber erst einmal bist du jedenfalls hier«, sagte Henrik. »Und irgendetwas musst du schließlich machen.«

      »Ich werde schon etwas finden.«

      »Was?«

      »Das weiß ich nicht. Etwas Befristetes«, antwortete ich leicht irritiert. Schließlich ging ihn das nichts an. »Ich habe ein fast fertiges Psychologiestudium«, fuhr ich fort. »Und ich hoffe, es hier abschließen zu können. Ich habe mit dem Studienausschuss gesprochen und meine Examensunterlagen zur Prüfung eingereicht.«

      »Wann bekommst du Bescheid?«

      Ich zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Sie haben gesagt, dass es etwas dauern kann.«

      »Du wirst auf jeden Fall nicht gleich nach den Sommerferien hier anfangen können.«

      »Das hoffe ich doch.«

      »Das kannst du vergessen. Du kannst froh sein, wenn du nach Neujahr anfangen kannst. Wenn sie dich zulassen.«

      »Warum sollten sie nicht?«

      »Es ist nicht so einfach, wie du offenbar glaubst. Und es braucht Zeit.«

      »Dann ist es eben so.«

      »Und was willst du bis dahin machen?«

      »Ich werde schon etwas finden«, beharrte ich störrisch.

      »Ich werde schon etwas finden, ich werde schon etwas finden! Es nutzt nichts, das wie ein Mantra zu wiederholen. Was kannst du? Was hast du zu bieten?«

      »Englisch zum Beispiel«, sagte ich.

      »Das können alle.«

      »Das glauben sie nur.«

      »Bea, es hilft nicht, sauer zu werden, und ich will dir nicht den Mut nehmen, aber du musst realistisch sein. Die Arbeitslosigkeit ist ziemlich hoch hier, verdammt nochmal, und ich kann dir versichern, dass du nicht an erster Stelle in der Reihe stehst.« Er hielt die Hände vor sich und begann an den Fingern abzuzählen. »Du warst über zehn Jahre im Ausland; du hast keine abgeschlossene Ausbildung; du stehst auf der falschen Seite der dreißig, du ...«

      »Jetzt hör aber mal auf, ich bin vor einem Monat dreißig geworden«, protestierte ich.

      »Ja, wie ich gesagt habe, auf der falschen Seite; du bist keine Schönheit ...«

      »Danke!«

      Er seufzte ergeben. »Ich sage nicht, dass du hässlich bist. Du bist ein hübsches Mädchen. Wenn du willst, kannst du sogar ein schönes Mädchen sein, aber du bist keine Naomi Campbell, oder? Die Leute bleiben nicht stehen, nur um dich anzustarren.«

      »Sollen wir wetten?«

      Er lachte. »Nein, aber wenn du wie jetzt Jeans und T-Shirt trägst, gleichst du tausend anderen hübschen, blonden Mädchen. Du hinterlässt keinen unauslöschlichen Eindruck.«

      »Weiter«, zischte ich.

      »Außer auf mich natürlich«, sagte er. »Wo waren wir?«, fuhr er fort und sah auf seine Finger. Ich hasse es, wenn Leute die Finger zu Hilfe nehmen, um meine Mängel aufzuzählen. »Ach ja, du bist kein herausragendes Talent.«

      Er lächelte triumphierend und griff nach seinem Glas; die Aufzählung war offenbar beendet. Ich hätte gut noch ein paar Mängel hinzufügen können, ließ es aber.

      »Darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass ich ein besseres Abitur gemacht habe als du«, sagte ich stattdessen.

      Er lachte. »Das macht dich doch nicht zu einer herausragenden Begabung! Du bist klug, du besitzt einen gesunden Menschenverstand und du verfügst über Intuition, aber du bist weder Freud noch Einstein.«

      Plötzlich erinnerte ich mich, warum damals auf dem Gymnasium nie wirklich etwas aus uns geworden war. Wir sind eine Weile miteinander gegangen, aber dann war ich es müde, immer klein gemacht zu werden.

      Ich holte tief Luft. Ich hatte Psychologie studiert, ich hatte eine Analyse hinter mir und ich wusste, dass mein schwacher Punkt – einer meiner schwachen Punkte – der war, dass ich Kritik zu persönlich nahm. Das nicht zu tun ist schwer, wenn es sich um die eigene Person dreht. Am liebsten würde ich eben hören, dass ich einfach großartig bin. In jeder Beziehung! Wer will das nicht? Aber okay, das waren die facts.

      Natürlich habe ich Fehler und Mängel, wer hat die nicht? Und er hatte sie schließlich nicht aufgezählt, um mich zu kritisieren oder zu verletzen.

      Ich trank einen Schluck Bier,