Schicksale gebündelt. Walther von Hollander. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Walther von Hollander
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711474686
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oder Ausdeuten zu überholen, ist nicht unsere Aufgabe. Was sich nicht aus den uns bekannten Tatsachen dieses Schicksals ergibt, kann im Dunkel bleiben.

      Es handelt sich nämlich weder um die Probleme Käthe Bessers noch darum, ob ihr Leben gut oder schlecht ist, gut oder schlecht ausgeht, sondern einzig und allein um dieses Leben selbst, wie es in jedem Geschehen weitergeht und weiter wird.

      Zwei Leben — drei Tode

      Schicksal eines Bankbeamtenpaares

      Seit dem Jahre 1911 bewohnte der Bankbeamte Melchior Lange eine Vierzimmerwohnung in der grauen und lauten Hamburger Straße in Altona. Er hatte von seinem Vater, dem Oberpfarrer Lange, außer dem seltenen Vornamen ein kleines Vermögen geerbt, dessen Zinsen für die angenehmen Überflüssigkeiten des Lebens draufgehen durften, weil das Einkommen für die Notwendigkeiten ausreichte.

      In den Krieg zog Lange als Leutnant der Reserve. Heraus kam er als Hauptmann und Bataillonsführer, Ritter hoher Orden. Er gewöhnte sich nur schwer in das bürgerliche Leben zurück. Die Revolution und die Bank waren ihm gleich zuwider. Er versuchte, den Krieg zu verlängern, indem er gegen die Münchener und Bremer Räte zu Felde zog. Aber dann mußte er den Beruf wieder aufnehmen, und bald tat er dasselbe wie bis 1914: er verrichtete seine Arbeit und lebte in seiner Freizeit.

      Die alten Klubs traten wieder in ihre Rechte, der Segelklub machte den stattlichen Hauptmann a. D. zum ersten Vorsitzenden. Im Tennis- und im Hockeyklub wurde er seines Zivilberufes wegen Kassierer. Die Inflation setzte nämlich langsam ein. Die Klubvermögen schmolzen zusammen. Man brauchte sachverständige Finanzverwalter. Lange verstand nicht allzuviel von Wirtschaftszusammenhängen. Er verfocht z. B. bis zum Schluß die Möglichkeit der Markzurückwertung, und so kam es, daß er zwar die Gelder des Klubs auf Drängen der Gesamtvorstände einigermaßen wertbeständig anlegte, sein eigenes Vermögen aber in Mark liegen ließ.

      Kurz bevor der Nullpunkt erreicht war — im Januar 1923 — heiratete Melchior Lange ein Fräulein Rosa von Zwink, die einzige Tochter seines verstorbenen Regimentskommandeurs, eine sommersprossige Blondine, die beim Lachen wie ein Chinese, beim Weinen wie eine Nonne aussah und nur in großer Gesellschaftstoilette, mit Korsett und hochgestelltem Busen, wie eine Offizierstochter.

      Rosa brachte in die Ehe das Mahagonischlafzimmer ihrer Eltern mit, eine Anzahl von Hirschgeweihen mit Schießdaten und eine Sammlung von alten Schwertern, Lanzen und Pistolen, die der Wohnung ein martialisches Aussehen verliehen. Sie sah im ersten Jahre der Ehe zu ihrem Mann auf, fand sein in Würdefalten zementiertes Gesicht anziehend und seine dicke Oberlippe mit dem Strohschnurrbart „ulkig und lieb“. Das polterig-schneidige Auftreten hielt sie für ein männliches Geschlechtsmerkmal.

      Sie war ein paar Monate ganz zufrieden. Dann kamen ihr Zweifel. Sie dachte nach, verglich. Scheinbar hatte sie doch nicht das große Los gewonnen. Zum mindesten spürte man beim Zusammenleben nichts von Liebe. Später kamen größere Sorgen. Die Zahlen wuchsen zu Bergen, schrumpften plötzlich von einem Tag auf den andern, und man saß auf dem trockenen. Melchior Lange mußte seiner Frau mitteilen, daß man auf das Arbeitseinkommen allein angewiesen, daß man proletarisiert sei.

      Rosa Lange saß ein paar Tage an ihrem winzigen Damenschreibtisch. Zum erstenmal in ihrem Leben rechnete sie genau und ausdauernd. Sie strich die Ausgaben für den Hund, für die Sommerreise, das Kostüm ging gut noch ein Jahr, die Hüte ließen sich modernisieren. Das Mädchen war zu entlassen, eine Aufwartefrau tat es auch, ja beim zweiten Durchrechnen fiel die Aufwartung einem Bleistiftstrich zum Opfer, der die ganze Seite zerriß.

      Das Essen? Da kamen schon die Ausgaben, die auch Melchior angingen. Aber er war wohl eher ein Vielesser als ein Feinschmecker, und so ließ sich der Kaffee mit Zichorie schwärzen, die Kochbutter durch Rahma butterfein ersetzen. Ob er wohl auch eine billigere Zigarre wählen würde, weniger Kognak oder minderen trinken? Ging sein Sommermantel nicht auch noch ein Jahr, mußten es wirklich neue Tennishosen sein? Sie rechnete und strich. Aber am Ende ging es ohne eine völlige, einschneidende Änderung nicht: die Klubbeiträge nämlich, die Ausgaben für Sport und Tanz, die Kosten für Gesellschaften waren nicht aufzubringen.

      Die junge Frau fand tagelang nicht den Mut, ihr Budget zu zeigen. Schließlich kam sie aber doch mit ihren Zetteln an. Melchior zog die Stirn noch höher als sonst, schob die Oberlippe vor und versuchte, den kleinen Schnurrbart glattzulegen. Er knurrte, schüttelte den Kopf, entschloß sich schließlich, die Sache lächerlich zu nehmen. Er schlug sie auf die Schultern, tätschelte ihr die Wangen. Das war so recht die Vorstellung eines Frauenzimmers. Man sollte zwischen seinen vier Wänden eingehen. Tages Arbeit, abends Stumpfsinn. War das Radio vielleicht erlaubt? Im Ernst: es gab für einen, der vorwärts wollte, nichts Dummeres, als sich vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen. „Ich werde es schon machen,“ schloß er sonor, „ich habe allerlei Pläne. Aber deine dilettantischen Eisenbartkuren lehne ich ab.“

      Rosa Lange lag eine ganze Nacht wach. Sie versuchte, Vertrauen in die starken Worte ihres Mannes zu bekommen. Vielleicht verfügte Melchior doch über Quellen, die sie nicht kannte. Vielleicht hatte er Kräfte und Möglichkeiten, von denen sie nichts wußte. Sie wollte es gerne glauben, sie mußte es glauben, sie glaubte.

      Anfangs: wenn man im „Atlantic“ mit dem Tennisklub dinierte, wenn man seinen Logenanteil beim Boxkampf bezahlte, den Bummel durch Sankt Pauli unnütz ausdehnte, wenn man eine Gesellschaft für 18 Personen gab — ganz einfach natürlich, mit drei Gängen und zwei Weinen, mit Zigarren, Kuchen, Likören —, dann brach die Angst immer wieder durch. Das konnte man doch tatsächlich nicht für dreihundertachtzig Mark im Monat haben? Da mußte doch ...?

      Mit der Zeit gewöhnte sie sich. Melchior ließ sich keine Unruhe anmerken. Er murrte wohl zuweilen, wenn das Geld zu Ende war. Aber das tat jeder Hausherr. Und wenn er in seiner Brieftasche nachsah, so fand sich immer noch ein Fünfzigmarkschein oder wenigstens zwei bis drei Zehner.

      Rosa wagte sogar einmal, ihn damit zu necken, indem sie meinte, die Brieftasche gleiche dem Ölkrüglein der biblischen Witwe, und man werde durch Gottes Wunder über alle Klippen und Fährnisse wegsteuern. Damals hätte sie die Wahrheit erfahren können. Denn Melchior Lange wurde erst käsebleich. Dann stand er schnell auf und ging ans Fenster. Die Tränen schossen in seine Augen. Die Hände zitterten ihm. Er drehte sich blitzschnell um. Er wollte seiner Frau gestehen ... Vielleicht konnte man doch noch etwas ändern. Aber Rosa war erschreckt in die Küche geflüchtet. Dort stand sie und wehrte die Wahrheit ab. Um Gottes willen, sie wollte noch nicht Bescheid wissen.

      So kam denn noch ein schöner Sommer. Die Langes lebten in ungestümer Heiterkeit. Vom Ansegeln bis zum Verpacken der Boote, vom Frühlingsfest über das Sommerturnier bis zum Schlußpokal von Hamburg versäumten sie kein Fest. Im Juli fuhren sie in die Berge. Im September waren sie eine Woche auf Helgoland. Ende September machten sie ein Trabrennen mit, wetteten hoch auf einen Außenseiter und gewannen eine große Menge Geld.

      Es war der einzige Tag, an dem Rosa Lange unsicher wurde. Sie hätte ihren Mann zu gern gefragt. Reichte es vielleicht, konnte man vielleicht doch weiterleben? Auch Melchior Lange rechnete. Das Defizit der Hockeykasse, bei der die Revision am nächsten Tage war, konnte er nun tatsächlich decken. Aber das Geld der Tenniskasse mußte acht Tage drauf da sein. Das konnte er nicht beschaffen, nachdem durch Generalversammlungsbeschluß des Hockeyklubs der Friedenszustand wiederhergestellt und die Kassenführung einem Dreimännerrat anvertraut war.

      Am Nachmittag des 5. Oktober 1925 meldete sich Lange bei seinem Vorsteher krank. Er hatte Fieber. Seine Backen brannten. Das Gesicht zog sich in nervösen Zuckungen zusammen. Er kam um halb vier zu Hause an, weckte Rosa unsanft aus dem Nachmittagsschlaf. Er mußte es ihr sofort sagen. Er konnte nicht warten, bis sie von selbst aufwachte. „Es ist aus,“ sagte er und fuhr sich mit den Händen an die Schläfen, „ich habe ...“ Er holte tief Atem. Er dachte, er müßte nun wohl genau erklären, was geschehen war, wie es geschehen war, wie aus kleinen Anleihen die großen Unterschlagungen entstanden waren. Aber Rosa schien alles zu wissen. Sie saß auf dem Diwan, vom Schlaf noch fröstelnd. Sie sah ihren Mann nicht an. Sie wagte es nicht. Sie hatte ein so schlechtes Gewissen. Hatte sie es denn nicht immer gewußt?

      „Armer Melchior“, sagte sie und weinte bitterlich an seinem