Schicksale gebündelt. Walther von Hollander. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Walther von Hollander
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711474686
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war nicht mit Melchiors Tode erledigt.

      Der Untersuchungsrichter wollte aber nichts von der Unterschlagung wissen. Er vernahm sie vielmehr wegen Mord und Totschlag. Er brachte bereits das fertige Geständnis mit. Die Sache war einfach genug: Rosa hatte von den Verfehlungen ihres Mannes gehört, hatte ihn im Zorn niedergeschossen und dann unter Zurücklassung eines Geständnisses Selbstmord verüben wollen. Menschlich war sie tief zu bedauern, juristisch leider nicht freizusprechen, wenn auch mildernde Umstände ...

      Rosa hörte schon gar nicht mehr hin. Sie konnte, sie wollte nicht erklären. Der Kopf fing wieder an zu dröhnen. Schwere Dampfhämmer schlugen drin auf und ab. „Ja,“ sagte sie und nickte zu allem, „jaja, geben Sie nur den Füllfederhalter. Es war schon so.“

      Der Untersuchungsrichter gab sich nicht zufrieden. Das Geständnis war zu schnell, zu tränenlos. Er bat sie, doch ja das Entlastende mit vorzubringen. Aber sie sagte nichts mehr. Es machte ihr keinen Spaß. Sie erklärte sich auch dem Arzt gegenüber nicht näher, dem Anwalt nicht, und die Tante Babette, die unter Opfern zu ihr vorgedrungen war, wies sie einfach aus dem Zimmer.

      Im März kam sie in Untersuchungshaft. Sie war eigentlich ganz gesund. Nur wenn sie zu viel grübelte, dröhnte ihr Kopf. Nachts wachte sie manchmal davon auf, daß sie einen Schlag gegen die Schläfe bekam. „Melchior“, sagte sie dann immer, oder: „Herein, herein!“ Aber es kam niemand. Es war wirklich nichts auf dieser Welt, das sie noch etwas anging. Aber sie hatte viel Zeit, darum nahm sie ihre ganze Vergangenheit noch einmal genau durch. Sie dachte an ihren Vater, an ihre Mutter, an ihre ganze Jugend. Was war nun geblieben? Sie hielt sich an die Ideale des Oberstleutnants von Zwink. „Mut,“ flüsterte sie, „Haltung, Königstreue!“

      Sie konnte keinen Trost darin finden und erst recht nicht in dem Leben der Mutter, das ganz im Gerede der Leute und in der Beachtung der Rangunterschiede aufgegangen war.

      Endlich, weil der Gefängnisgeistliche sie besuchte, erinnerte sie sich an Gott. „Lieber Gott,“ sagte sie einen ganzen Abend, „lieber Gott, du lieber Gott.“ Aber als sie es am andern Tag überdachte, mußte sie gestehen, daß sie in ihrer Einsamkeit keine Verbindung mit Gott bekam.

      Warum sie dann noch bis zum Tage vor der Verhandlung aushielt, ist nicht zu erraten. Sie wußte es wohl selber nicht. Aber ob nun die letzte Unterredung mit dem Anwalt sie so erregt hatte oder die Nachricht, daß Babette von Zwink ihre Unterstützung endgültig einstellte und darum nicht mal mehr Geld für Zigaretten da war, oder ob ganz einfach die Kraft nicht weiterreichte, jedenfalls beschloß sie, nun zum zweitenmal zu sterben.

      Und dieses Mal war es viel einfacher: sie hatte keine Angst zu überwinden, kein Herzklopfen, sie mußte auf niemanden achten, für niemanden besorgt sein. Als das Licht gelöscht war, riß sie aus ihrem Laken lange Streifen. Knüpfte sie um die Heizung, steckte den Kopf in eine Schlinge und holte zweimal tief Atem. Wie oft man wohl stirbt, dachte sie, als sie sich fallen ließ, und daß es diesmal keinen Kaviar zuvor gegeben hatte.

      Dann hatte sie ihren zweiten, einen leichten Tod gefunden. Ob sie allerdings ebenso leicht gestorben wäre, hätte sie genau gewußt, daß es das endgültige Ende war?

Ein Mannsbild Leben eines Landarztes

      1

      Im dritten Kriegsjahr erhielt der Stabsarzt der Reserve Dr. Wetzel einen unerwarteten Urlaub von 8 Tagen, weil der Generaloberarzt zufällig guter Laune war. Wetzel beschloß, seine Frau zu überraschen, kam abends gegen 8 Uhr in Halle an und nahm eine Droschke, um gemütlich zu seinem Häuschen hinauszufahren, das zwischen Halle und Ammendorf am Bahndamm lag. Es war ein kalter Aprilabend, windig und ziemlich trübe. Es regnete auch etwas.

      Während der letzten fünf Minuten wurde Wetzel unruhig. Er besah seufzend das Innere seiner Militärmütze, wischte die Stirn, zerrte an seinem Waffenrock und vergewisserte sich dreimal, ob Wein, Butter, Honig und Wurst noch in der Tasche waren.

      Als er ausstieg, fiel ihm auf, daß nur in der Küche Licht brannte und oben im Schlafzimmer, Ankleideraum und Badezimmer. Ihm schien es auch, als wenn das Dienstmädchen nur verlegene Freude zeigte. Er stieg in Mantel und Mütze vorsichtig die Treppe hinauf und öffnete lautlos die Tür zum Badezimmer. Was er sah, schien ihm zuerst eine Halluzination zu sein, Vorausspiegelung dessen, worauf er sich während der ganzen Eisenbahnfahrt gefreut hatte. Ein Mann stand nämlich in der Badewanne und seifte sich unter behaglichem Grunzen gründlich ab. Wetzel vergewisserte sich, daß er draußen im Flur stand und nicht jener fremde Herr sein konnte. Richtig, es hing ja eine Leutnantsuniform am Haken und nicht der Stabsarztrock. Er schlug sich vor die Stirn, drehte um, lief die Treppe wieder hinunter, befahl dem Dienstmädchen, der gnädigen Frau nichts zu sagen, ehe er angerufen hätte, und stand zwei Minuten nachdem er ins Haus gekommen war, wieder draußen.

      2

      Wetzel ordnete seine Angelegenheiten vom Hotel aus. Ein junger, sonst unbeschäftigter Anwalt mußte gleich am andern Morgen die Scheidungsklage aufsetzen. Der Nachmittag war der Auseinandersetzung mit Vera Wetzel gewidmet. Sie erschien in einem kückengelben Frühjahrskostüm mit hellblauem Hut, war verweint, unsicher, voll Selbstanklage. Sie wollte seine Verzeihung erbitten oder sein Verständnis, wollte sich, wenn er es verlangte, scheiden lassen und seine Freundin bleiben. Sie hatte sich von 9 Uhr abends bis nachmittags um vier tausend Möglichkeiten ausdenken können. Aber Wetzel versteifte sich darauf, gekränkt und betrogen zu sein.

      „Nein, wie konntest du? ...“ rief er erregt, oder: „Wer ist denn dieser junge Mann? So? Keller heißt er? Kenn’ ich nicht!“ Oder: „Während ich jede Stunde sterben kann ...“ und anderen unnützen Kram. Auf diese Weise gab es natürlich keine Verständigung. Sie gerieten schließlich in Vorwürfe von gestern und vorgestern. „Welche Interessen verbinden uns?“ sagte er zum Beispiel. „Hättest du auch einen Blick für Gesunde gehabt!“ antwortete sie. Sie untersuchten sorgfältig, ob sie sich jemals geliebt hätten, und verneinten es. Vera betonte, daß Wetzel nicht gerade der Schönste sei mit seinen Sommersprossen, dem kurzgeschorenen Rundschädel und den leicht gebogenen Beinen. Wetzel hingegen hatte ihre Tränenlosigkeit beim letzten Abschied zu bemängeln (dabei war sie eiskalt verzweifelt gewesen), ihre unbändige und unruhige Genußsucht und ihren Hang zum Luxus, der in der Tat ein wenig über ihre materiellen Möglichkeiten hinausging.

      Kurzum: kaum hatte man sich voneinander entfernt, so war man getrennt. Der eine Schmerz zog hundert alte und neue Schmerzen hinter sich her, in der einen Enttäuschung waren hundert andere enthalten. Als Vera um neun Uhr die Treppe hinunterstieg, war von ihrer Ehe nichts mehr übrig. Keine Wärme, keine Erinnerung, kein Lächeln. Hatte sie nicht seine Hände geliebt, seine ungestüme Tapsigkeit, die Schärfe seines Verstandes und die Hilflosigkeit seiner tapferen kleinen Seele? Sie wußte es nicht. Sie sah nur seine alberne Verbeugung am Schluß, die verkniffenen Lippen und die großen, roten Flügelohren.

      Wetzel hatte es ein wenig besser. Denn wenn er auch in seinem Trotz nichts hörte und sah, so roch er doch die sanfte Wolke von Veras Parfüm. Es war noch dasselbe, von dem er ihr im letzten Augenblick vor der Trauung eine halbe Flasche in den Schleier gegossen hatte, so daß sie, wie ein Treibhaus duftend, zum Altar gehen mußte.

      Daran konnte er denken. Ein wenig weinen und lachen, und als am anderen Tag der Duft verschwunden war, hatte er sich bereits an den Gedanken gewöhnt, daß er sein Leben nur noch auf sich stellen konnte, falls er überhaupt leben würde.

      3

      Bald nach diesem Urlaub wurde Wetzel als Bataillonsarzt an die Front versetzt. Die Kämpfe am Chemin des Dames und um Laon überstand er gut. Im Oktober 1918 geriet er beim großen Rückzug mit seinem Verbandplatz in Gefangenschaft, hatte einen empörenden Transport durch Frankreich zu erdulden und kam infolge von allerlei unglücklichen Umständen erst im August 1919 wieder nach Deutschland zurück, obwohl er als Arzt sofort hätte ausgetauscht werden müssen. Durch die zehn Monate der Gefangenschaft war er in einen Zustand tiefer Entmutigung geraten. Er kam sich überflüssig vor, entwurzelt. Er gab seinem Stolz einen Stoß und fuhr zu Vera hinaus. Aber das Haus war verkauft, Vera zu ihren Eltern nach Holland zurückgekehrt. Der neue Besitzer führte ihn durch die Räume, deren vertraute Wände durch fremde