Mein erster Stadionbesuch. Jannis Linkelmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jannis Linkelmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783895338960
Скачать книгу
der ganz große Ärger, den wir bekamen, selbst für zwei äußerst unfugbereite 14-Jährige schon ziemlich beeindruckend.

      Aber der Reihe nach: Dem allerersten Stadionbesuch gingen lange Verhandlungen voraus, denn uns einfach mit dem Linienbus zum rund zehn Kilometer entfernten Tivoli fahren zu lassen, war für unsere Eltern undenkbar. Dass die anderen aus der Klasse das sehr wohl durft en, erwies sich als ungültiges Argument, denn bei denen handelte es sich um Jungs und ja, das mag ungerecht sein, aber denen kann einfach weniger passieren – jedes Mädchen kennt diese Argumente, nicht wahr?

      Und so fuhr uns mein Vater an diesem Freitagabend höchstpersönlich zum Tivoli und setzte uns in einer Seitenstraße ab. Pünktlich eine halbe Stunde nach dem Abpfiff werde er uns exakt dort wieder abholen, erklärte er mehrmals – und nein, natürlich hörten wir schon beim ersten Mal nicht wirklich zu. Wir waren schließlich viel zu aufgeregt: zum ersten Mal abends allein in der Stadt, dazu auch noch bei einem Spiel des Vereins, zu dem wir in den Monaten zuvor eine bis dato nur theoretische Liebe entwickelt hatten.

      Gegen wen die Alemannia kickte, weiß ich nicht mehr, aber: sie gewann. Und wie – am Würselner Wall, wo wir standen, herrschte unfassbar gute Laune. Und weil man sich über den Spielverlauf keine großen Sorgen machen musste, blieb reichlich Zeit, mit den anderen Fans ins Gespräch zu kommen. Und ja, wir verliebten uns auch ein bisschen – was beim folgenden ganz großen Ärger zwar keine Rolle spielte, aber maßgeblich zu ihm beitrug.

      Denn nach dem Abpfiff waren wir zwar so glücklich, wie zwei fußballbegeisterte Teenies nur sein können, aber auch vollkommen orientierungslos. Keine Chance, den vereinbarten Treffpunkt zu finden. Und dazu aber großes Glück, denn Jojo und Matze entschieden sofort, dass sie uns keinesfalls allein am Tivoli herumstehen lassen wollten. Nach rund anderthalb Stunden gaben wir die Suche auf und riefen zu Hause an. Wo man richtig, richtig sauer war, weil man sich natürlich riesige Sorgen gemacht hatte. Richtig ernst haben wir das telefonische Geschimpfe übrigens nicht genommen, denn wir verzichteten darauf, mit Jojo und Matze Telefonnummern auszutauschen, sondern verabredeten uns einfach fürs nächste Spiel. Bis dahin sollte es jedoch dauern, ziemlich lange durften wir dann nicht mehr zum Fußball. Was echt schlimm war, da zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen ein Radio gehört. Und zwar nicht irgendein Radio, sondern das im Erker des großen Wohnzimmers meiner Großeltern. Im großen Sessel und auf einem kleineren davor: Opa, ein karierter Block, zwei, drei Kulis und eine Rauchwolke (zu der wir später kommen). Und ich.

      Opa war Fußballfan, eine Leidenschaft, der die restliche Familie vollkommen ignorant gegenüberstand, und Workaholic, was alle vollkommen okay fanden – aber samstags, samstags war der einzige Tag, an dem Opa zu Hause blieb. Weil da nämlich Bundesliga (und zweite Liga natürlich) lief, erst im Rundfunk und dann im Fernsehen, aber Rundfunk war wichtiger.

      Opa saß also vor dem Radio und rechnete Tabellen, Chancen, Auf- und Abstiege aus. Das war hochspannend, und vor allem schloss es die restliche Familie aus, die Fußball nur dann zur Kenntnis nahm, wenn WM war, weswegen ich die Samstagnachmittage bei ihm vorm Radio verbrachte. Wo ich alles lernte, was man als Fußballfan wissen muss – inklusive der Tatsache, dass man sich als MSV-Fan niemals Hoffnungen auf irgendwas machen sollte, geht nämlich sowieso immer alles schief.

      Womit wir zur Rauchwolke kommen: Die wurde immer dann besonders dicht, wenn zum MSV geschaltet wurde, was nun erst einmal nicht besonders verwunderlich ist (obwohl Opa auch eine Statistik darüber führte, dass die Zebras, selbst wenn sie gerade in der Bundesliga waren, in den Livesendungen krass unterrepräsentiert waren. Andererseits war Opa Bankdirektor und konnte alles schön- oder schlechtrechnen, je nachdem, wie’s gebraucht wurde, weswegen dieser statistischen Erhebung nicht unbedingt zu trauen war).

      Aber zurück zur Rauchwolke: Die bestand aus Zigarre, denn Opa war zwar Pfeifenraucher, fand aber Pfeifentabak doof, weswegen er Zigarren viertelte, in seine Pfeife steckte und rauchte. Was nicht gut roch, aber nicht so sehr stank wie die schrecklichen Ungerechtigkeiten, die dem MSV Woche für Woche widerfuhren.

      Und so ging das jahrelang: Der MSV stieg auf und ab, Opa erklärte seiner Enkelin Tabellenausrechnen, spekulatives Addieren, das Leben und die Abseitsregel. Während dieser Verein aus Duisburg verlässlich das tat, was er am besten konnte, nämlich nicht Meister werden, wurde Opa irgendwann umquartiert und musste mitsamt seiner Rauchwolke samstags im Badezimmer sitzen. Was ihm übrigens vollkommen egal war.

      Aus dem ganz großen Ärger nach dem Alemannia-Spiel hielt sich Opa übrigens raus – offiziell jedenfalls, denn insgeheim führte er wohl Einzelgespräche, in denen es grob um »es ist ja nichts passiert, alle mal wieder runterkommen« ging.

      Und so war der ganz große Ärger dann irgendwann vorbei. Beim nächsten Tivolibesuch konnten stolz die inzwischen erstandenen schwarz-gelben Schals vorgeführt werden – Roda Kerkrade spielte nämlich ebenfalls in den Kartoffelkäferfarben und in Holland waren die Fanaccessoires wesentlich billiger, wie Rita und ich an jenem Freitagabend von den anderen Alemannia-Anhängern erfahren hatten. Jojo und Matze sahen wir natürlich auch wieder – und gingen natürlich auch weiter zum Fußball, als sich beide längst als indiskutable Idioten entpuppt hatten.

      Mein Opa ist dann irgendwann gestorben, dass sein MSV im Pokalfinale stand, hat er nicht mehr mitbekommen. Er wäre ziemlich stolz auf seine Zebras gewesen, das steht mal fest. Aber gleichzeitig hätte er sicher auch statistisch bewiesen, warum der MSV exakt nullkommanull Chancen auf Pokal-in-die-Luft-recken haben würde.

      Den Tivoli gibt es nicht mehr – und ich werde nie verstehen, warum er abgerissen wurde und was daran so toll sein soll, Drittligaspiele in einer überdimensionierten Nullachtfuffzehn-Arena auszutragen. Ob Jojo, Matze und Rita jemals einen Fuß in das scheußliche neue Alemannia-Stadion gesetzt haben, weiß ich nicht. Wenn sie es taten, fände ich es schön, wenn sie die alten Kerkrade-Schals von damals dabei trugen.

      Als Auge den HSV besiegte

       Marc Hindelang

      geb.: 1967

      Sportkommentator

       Fan des FC Bayern München

      Augenthaler. Klaus Augenthaler. Allein schon der Name verkörperte die Urgewalt dieses Mannes. Obwohl mein Lieblingsspieler ja Udo Horsmann war, der aus der Sicht eines 13-Jährigen modernste Linksverteidiger seiner Zeit, was Bundestrainer Jupp Derwall aber dummerweise konsequent ignorierte und auf den soliden aber doch eher langweiligen Bernard Dietz setzte. Wahrscheinlich fand ich deshalb auch diesen Witz so großartig: »Welches Säugetier hat keine Ahnung von Fußball? Jupp, der Wal.« Brüller.

      Augenthaler war der Lieblingsspieler meines besten Freundes Th omas – und kam auch in jeder Radio-Reportage von Gerd Rubenbauer vor: »Weiter Schlag von Augenthaler« gehörte zu den von Rubenbauer mit dröhnender Stimme meistbeschriebenen Spielzügen dieser Zeit. Ja, der Auge. Filigran war er nicht. Aber der Hauptdarsteller am 27. September 1980.

      Endlich konnte ich ihn und Udo Horsmann live sehen, und natürlich Kalle Rummenigge und Paul Breitner. Hatte auch lange genug gedauert. Sechs Jahre vom Fan-Werden bis zum ersten Stadionbesuch. Aber München war vom Bodensee aus so gut wie unerreichbar. Die Fahrt, die heute in nicht einmal eineinhalb Stunden zu bewältigen ist, dauerte im autobahnlosen 1980 mehr als doppelt so lange. Samstags hatten wir zudem meistens selber unsere Jugendspiele – und wer lässt seine eigene Mannschaft schon gerne im Stich. So war es bis dahin eine Fernbeziehung über die »Sportschau« und »Heute im Stadion«.

      Irgendwann gelang es, die Geschichte organisatorisch hinzubekommen. Th omas hatte für dasselbe Spiel Tickets wie ich, sein Vater fuhr uns den langen Weg nach München, während wir in Fachgespräche (Augenthaler, Horsmann …) vertieft waren. Am Stadion trennten sich unsere Wege, da ich mit meinem in der Nähe von München lebenden Großvater verabredet war, der mich ins Stadion begleitete. Das war einerseits schade, denn Thomas konnte an diesem Tag schon in die Südkurve. Und Großväter stehen bekanntlich eher ungern in Fankurven. Man hat als 13-Jähriger auch nicht mehr die kindliche Beziehung zum Opa – aber großen Respekt vor dem Mann, der kein