Es war zu verschmerzen, dass wir die Szenerie nicht von oben sehen konnten, weil die Schlange am Olympiaturm endlos lang war. Der Erwerb einer Stadionwurst war zudem auch dringender. Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, ob sie damals schon von Uli Hoeneß’ Fabrik produziert und geliefert wurde, aber dass sie ihr ordentliches Geschmacksniveau die kommenden Jahre halten sollte, selbst bei Spielen gegen Darmstadt 98 vor 11.000 Zuschauern. Wobei meine Theorie lautet, dass der Geschmack der Wurst sich dem Erlebnis anpasst. Die Mischung aus Vorfreude und Anspannung, aus der Hoffnung auf ein schönes Erlebnis und der Angst vor einer Niederlage machen den klassischen Geschmack der Stadionwurst aus. Das Event, und das heißt: »Ich sehe meine Mannschaft heute live«, isst sozusagen mit.
Zumal, wenn man das Stadion von innen sieht. Wer nie dort war, dem sei erklärt, dass man das Olympiastadion praktisch vom oberen Rand aus betritt und in diesen weitläufigen Kessel mit seinen grünen Schalensitzen hinunterschauen kann. An einer Seite überspannt mit diesem gigantischen Zeltdach, die – aus heutiger Sicht – Retro-Anzeigetafeln mit den analogen Uhren und überall diese lustigen Piktogramme. Natürlich drängte ich den Großvater, den etwas weiteren Weg an der Südkurve vorbei zu gehen. Bayern-Kutten, Schals, Fahnen, alles Rot-Weiß. Zugegeben: Während des Spiels schlich schon der eine oder andere wehmütige Blick dorthin. Aber Haupttribüne Mitte war für das Bundesliga-Debüt ja auch kein so schlechter Platz und das Spitzenspiel spannend. Horsmann spielte eher unauffällig, was schade war. Denn Jupp Derwall saß wenige Reihen von mir entfernt. Ich hätte ihn gerne gefragt, was das mit Bernard Dietz denn sollte. Aber gegen den Kapitän der Europameister-Mannschaft zu argumentieren wäre nicht einfach geworden. Augenthaler hatte Horst Hrubesch im Griff, dafür setzte sich Rummenigge häufig gegen Ditmar Jakobs durch. Nach einer Stunde konnte er dann auch den überragenden HSV-Torwart Jupp Koitka überwinden. Ein Hammer vom Sechzehner, ein Jubelorkan, ein rot-weißes Fahnenmeer. Glückseligkeit. Fünf Minuten lang. Bis ausgerechnet Augenthaler (!) den Torwart Manni Müller umrannte und dem blonden Werner Dreßel das 1:1 auflegte. Andere hätten den Kopf hängen lassen. Aber nicht Auge. Nicht mal nachdem er freistehend vergeben hatte. Kurz vor Schluss kam sein großer Auftritt: Flanke von Edeljoker Norbert Janzon – Auge steigt hoch und wuchtet den Ball mit dem Mittelscheitel zum Siegtreffer ins Netz. Mein einziger Sieg in dieser Saison – denn die anderen vier Spiele, die ich noch sah, endeten 1:1. Aber da konnte ich endlich mit Thomas in der Südkurve stehen, da sich sein Vater netterweise als zuverlässiger Chauffeur anbot. Und Meister wurden wir trotzdem. Weil Augenthaler den HSV besiegt hatte.
Vergebene Liebesmühen
Lou Richter
geb.: 1960
Journalist/Moderator
Fan von Underdogs
Geboren in Einbeck, Heimat des Bockbiers, und in Göttingen aufgewachsen, wo all die niedlichen Nobelpreisträger herkommen: Wo wird da wohl meine Fußball-Taufzeremonie abgehalten worden sein? Natürlich in Hannover, der Stadt, wo die Menschen seit Urzeiten an der Leine herumlaufen. Es war im März 1973. Im Alter von zwölf Jahren waren für mich schon zwei wesentliche Entscheidungen gefallen: Ich wollte mit Anette B. gehen und der FC Bayern München war mein Lieblingsverein. Die Motivation war in beiden Fällen dieselbe: Ich wollte Sieger sein! Anette war die Schönheit der Klasse 7b, der FC Bayern der Primus der ersten Liga. Ich hätte auch auf Dorothea H. und Borussia Mönchengladbach abfahren können, aber: Dorothea hatte schon einen Freund. Ein reifer Herr aus der achten Klasse. Der war deutlich wahrnehmbar Fan der »Fohlen-Elf« und bestach durch eine von Günter Netzer inspirierte Langhaar-Frisur. Also blieben Anette und die Bayern.
Im März 1973 hatte ich bereits einige Spiele der schwarz-gelben 05er aus Göttingen besichtigt. Ich selber spielte bei diesem Verein in der C-Jugend und darf heute voller Stolz sagen: Zwei meiner damaligen Mitspieler bolzten später sogar in der zweiten Liga. Meine Grätschen konnten das nicht verhindern. Aber das steht auf einem anderen Blatt. Die Spiele der ersten Mannschaft meines Vereins in der Regionalliga übten auf mich nur eine geringe Faszination aus. Das Stadion am Maschpark hatte keine richtige Tribüne, die Gegner hießen Phönix Lübeck oder Leu Braunschweig und die Hälfte der Zuschauer kannte ich persönlich. »Na, Langer!« Was ich heute als angenehm bodenständig und interessanter als manch Champions-League-Gebolze empfinde, erschien mir damals tief provinziell. Im Farbfernsehen hatte ich ja schon in die schillernde Welt des Hochglanz-Fußballs gestarrt: Ramba-Zamba bei der EM 1972! Der junge Hoeneß erobert Wembley! Gerd Müller, der aus keiner Chance zwei Tore machte! Bei mir war’s in der C-Jugend häufig umgekehrt.
Entsprechend kurzatmig vor Aufregung reagierte ich, als mein Vater im März ’73 ankündigte: »Am Samstag fahren wir nach Hannover! 96 spielt gegen Gladbach!« Hannover – das war für mich damals eine wilde Glitzermetropole. Mönchengladbach – das war der große Widersacher »meiner« Bayern. Diese Kombination sollte mein erstes Bundesligaspiel ergeben und den größten anzunehmenden Kick, außer Flaschendrehen mit Anette B. Dieses Kribbeln im Bauch, das man nie mehr vergisst, als ob da im Magen zu viel Chili con Carne drin ist, also die Anspannung, die Vorfreude wie an Weihnachten vor der Bescherung, begleitete mich die gesamte Fahrt bis nach Hannover. Und dann das Niedersachsenstadion, sturmfest und erdverwachsen! Eine monumentale Schüssel, in der, wie mein Vater bemerkte, die Hälfte aller Einwohner Göttingens Platz finden könnte. Spontan bekam ich Mitleid mit der anderen Hälfte, die dann nicht mehr reinpassen würde. Aber ich war drin. Ich wusste nicht, wo ich hingucken sollte.
Die Roten, das waren die Sechsundneunziger. Zu schlecht für oben, zu gut für unten, erläuterte mein Vater. Ich sah ganz in Weiß und ohne Blumenstrauß berühmte Menschen, die ich aus dem Fernsehen kannte: die Europameister Wimmer und Heynckes. Netzer fehlte verletzt oder »Er is mit sein Ferrari inne Polizeikontrolle hängen gebliem«, wie ein Einheimischer scherzte. Der entpuppte sich im Laufe des Spiels als Schmähmaschine. Unvergesslich: der Vogts sei nicht größer als ein Spiegelei, der Däne Jensen selbst für Vivi Bach zu doof und der Heynckes wär mal besser in Hannover geblieben, dann könnte er heute schön 5:0 gewinnen. Der Ex-96er Heynckes gewann aber mit seinen Gladbachern, wenn auch nur 2:1. Dafür schoss er spaßeshalber beide Tore, das 1:0 in der ersten Halbzeit, das 2:0 in einer aufwühlenden Schlussphase.
Da konnte ich dem Spiel schon kaum mehr folgen, weil der Hannoveraner Scherzbold mit seinen Witzchen den Unmut von zwei Gladbacher »Schlachtenbummlern« auf sich zog, die durchaus zu einer Schlacht bereit schienen. Permanente diplomatische Interventionen des Restpublikums konnten ein Scharmützel verhindern. Das Anschlusstor der Niedersachsen durch einen von Willi Reimann vollstreckten Foulelfmeter wurde vom Gejohle des Hannoveraner Spaßvogels überlagert, der den rheinischen Gästen versprach, jetzt von den Roten noch überrollt zu werden. Dazu kam es dann doch nicht. Es blieb beim 1:2, mein Vater drängte auf zügige Abfahrt, damit wir noch möglichst viel vom Stau mitbekamen. Mir glühten die Wangen bis Montagmorgen, als ich triumphal in die Schule einzog. Ich war endlich ein Mann, ich hatte mein erstes Bundesligaspiel gesehen.
Die Sache mit Anette B. legte sich übrigens im Laufe der Zeit, bis auf ein kurzes Techtelmechtel in der Oberstufe. Auch die Liebe zu den Bayern war endlich. Als Lieblingsverein taugt nur eine Horde, zu der man eine persönliche Beziehung mit regelmäßigem Blickkontakt aufbauen kann. Irgendwann war ich bereit, zu den Schwachen in meiner Nachbarschaft zu halten. Als Anhänger des FC St. Pauli fehlt mir bis heute jedes Verständnis, sich mit Klubs nur deshalb anzufreunden, weil sie einem die größte Wahrscheinlichkeit auf Erfolgserlebnisse anbieten. Die Fan-Welt wäre voll mit BarÇa-Fans.
Mein erster Stadionbesuch ließ mich