Mein erster Stadionbesuch. Jannis Linkelmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jannis Linkelmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783895338960
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– macht- und kraftvoll. Der Gegner ist total überrascht von dieser Einheit, verliert den Rhythmus und das Spiel. Am Ende siegt der FC Schalke 04 mit 2:1! Als der Abpfiff ertönt, reißt mein Vater mich in seine Arme. Während er mich fast erdrückt, jubelt er immer wieder: »Siehste, Jung. Ich wusst, dat die heut für dich gewinnen!«

      Für ihn und uns kam der Abpfiff überraschend und unerwartet. Als meine Frau wie versprochen am nächsten Tag ins Krankenhaus kommt, sagt man ihr, dass Vater noch mal zu einer Notoperation gemusst hätte und schickt sie zur Intensivstation. Dort wird sie von bedrücktem Personal und einem Arzt empfangen, der ihr mitteilt, dass mein Vater gestorben ist.

      Unfassbar für uns! Keine Möglichkeit für ein Wort des Abschieds. Erst jetzt fällt uns ein, was wir alles nicht gesagt haben und vieles, was wir nie hätten sagen sollen. Vorbei – endgültig! Es bleibt die Hoffnung, dass er trotz allem gewusst hat, dass er geliebt wurde.

      Heute haben wir ihn beerdigt. Der Sarg geschmückt mit »seinen« Vereinsfarben in blau und weiß.

      Auf der Kranzschleife von mir und meiner Frau stehen nur zwei Worte:

       »Tschüss Schalker!«

      Unsere Stadt Unser Verein Unsere Leidenschaft

       Jürgen Pflanzer

      geb.: 1971

      Arzt für Innere Medizin

       Fan von Hannover 96

      Am liebsten würde ich, wie in jedem schönen Märchen, mit einem »Es war einmal ein schöner Tag …« beginnen, dabei muss ich aber schon am Anfang relativieren und philosophieren. Und das über etwas so scheinbar Einfaches wie den ersten Stadionbesuch …

      Vielleicht hat schon mal einer die Erfahrung im Leben gemacht, dass manch gewaltiger Prozess einen Anfang hat, der gar nicht so klar definiert ist und auch nicht besonders weltbewegend erscheint. Manchmal kann man gar nicht sagen, wo genau der Anfang wirklich anfängt.

      Dreijährige, wie mein Sohn, den ich jetzt schon in der Hoff nung auf eine gute rote Erziehung ins Stadion mitnehme, werden sich eh nicht an den ersten Besuch erinnern und wahrscheinlich nur Fetzen von jedem Spiel behalten. Doch der erste Fetzen wird zugegebenermaßen schon mal vom ersten Spiel sein. Mein Sohn bekam damals das Objektiv meiner Kamera gegen den Kopf, als ich beim ersten der drei Tore meiner Roten beim Sieg gegen Bayern München zum Jubeln hochschoss, ohne daran zu denken, dass ich meinen Sprössling auf meinem Schoß durchaus zwei bis drei Reihen nach unten hätte katapultieren können.

      Ich selbst war nicht mal ein Kind bei meinem ersten Stadionbesuch, und eigentlich sollte man meinen, dass der erste Besuch nun mal der erste ist, daran lässt sich nichts ändern, drehen oder rütteln. Jedoch war bei mir erst der zweite Besuch der eigentlich erste richtige Stadionbesuch. Und vielleicht sinniert man dann über die Beziehung zwischen einem bewussten Stadionbesuch und Identitätsfindung. Da dies wahrscheinlich schwer nachzuvollziehen ist, hole ich mal aus, und darf vielleicht ausnahmsweise über zwei Erlebnisse berichten.

      Hannover 96 hat den »Zusammenhalt« neu entdeckt. Hierzu gehört eine besonders innige Verbindung mit den Fans. Meine Familie, die jetzt mit dem »Roten Virus« angesteckt wurde, und unser geliebter Stürmer »Moa« Abdellaoue.

      Der erste Besuch war an einem schönen Herbsttag. Es war der 5. September 1993 – den Internetrecherchen sei Dank kann ich das Datum des durch mein Gedächtnis eigentlich geächteten »Ersten« benennen. In Bukarest geboren, kam ich mit meiner Familie 1987 nach Deutschland. Nach etwa anderthalb Jahren Süddeutschland war ich 1989 in Norddeutschland mit fast 18 Jahren ein »Hinzugekommener« und in der Fußballlandschaft noch kein leidenschaft licher Fan. Nicht, dass mir Fußball fremd war. Ich feierte als 16-Jähriger – zwar nicht im Stadion, sondern vorm Fernseher – mit Steaua Bukarest schon den Gewinn des europäischen Meistercups, in dem ein gewisser deutschstämmiger Torwart Helmuth Duckadam vier Elfer hintereinander hielt und Steaua an die Spitze des europäischen Fußballs brachte. Und anstatt eines erneuten Elfers schnappte er sich logischerweise den Nimbus einer Fußballlegende.

      Auch bis 1993 war ich noch kein leidenschaft licher Fan. Mir gefiel zeitweise der schöne Fußball der Dortmunder. Ob da die kurze Bekanntschaft mit einer Ruhrpott-Schönheit nur zufällig zeitlich zusammenpasste, mag jetzt unkommentiert bleiben. Doch damals stand schon fest, dass, zumindest was den Fußball anbelangt, mein Herz schließlich doch nicht so leicht zu vergeben war.

      In den letzten Monaten meines Zivildienstes fieberte ich im September 1993 dem Anfang meines Medizinstudiums entgegen, das einen Monat später in Hannover beginnen sollte. Und mit ihm eine beispiellose und in ihrer Art besondere Liebe zur schönsten Stadt der Welt.

      Freunde, die Bayern-Fans waren, nahmen mich mit zum Spiel des Traditions- HSV gegen den VfL Bochum. Für die Außenstehenden: Gemeint ist Hannover 96, nicht unsere Freunde des jüngeren Hamburger SV, mit denen wir 96er schon viele Jahre eine Fanfreundschaft unterhalten. Das eigentliche Gründungsjahr des Hamburger SV ist das Jahr 1919. Da der Verein jedoch angibt, die Tradition der Vorgängervereine fortzusetzen, steht in der Satzung als Gründungstag derjenige vom SC Germania, und zwar der 29. September 1887.

      Zurück zum damaligen Spiel: Meine Freunde behaupteten also, Bayern hätte eine Fanfreundschaft mit Bochum. Seit dem damaligen »Aha« blieb es bis heute beim selben Kenntnisstand. Einerseits da mich Fanfreundschaften von Bayern nicht interessieren, andererseits will ich die Kenntnisse meines Freundes über seinen FCB nicht in Frage stellen, zumal ich meine eigene Meinung über bemitleidenswerte Fans vom FCB hier im hohen Norden habe …

      Das Spiel war nicht sehr attraktiv. Nach der ersten Halbzeit zogen wir von den Stehplätzen der Nordtribüne, die wir damals nur aus finanziellem Grund wählten, zur Südtribüne, da die bedauernswerten »Fans auf Identitätssuche« näher am Fanblock der Bochumer sein wollten.

      Komischerweise keimte neben den Bochum-Fans schon das erste Mal der Rote in mir auf. Ich fragte mich, was ich da sollte. In einem Monat würde Hannover meine Heimat sein. Ob nun die geringer gewordene Nähe zur historischen Ausstrahlung der Westkurve, die auf hannoverschen Tränen und Blut gebaut wurde (die Westtribüne steht auf den Ruinen Hannovers aus dem Zweiten Weltkrieg), dazu beitrug, dass ich ad hoc eine besondere Abneigung gegen die Bochum-Fans um mich herum entwickelte, oder doch eher die beleibte Dame aus Bochum, die beim »Bochum! Bochum!«-Rufen aussah wie eine Kröte beim Quaken – das lässt sich nicht mehr genau eruieren. Heute habe ich nichts mehr gegen die Bochumer Fans, mir taten sie sogar ein bisschen leid, als sie 2010 nach der 3:0-Niederlage im eigenen Stadion gegen Hannover den Weg in die zweite Liga antreten mussten. Zwar hätten wir ohne diesen Sieg für die zweite Liga planen können, doch seitdem gönne ich ihnen ein Wiedersehen in der ersten Liga.

      Zu meinen außerfußballerischen Eindrücken, die man damals beim durchschnittlichen Spiel zuhauf hatte sammeln können, zählt die vage Erinnerung – die ich mir gerne heute von anderen Fans bestätigen lassen würde –, dass man von der Südtribüne des damaligen altehrwürdigen Niedersachsenstadions die Kuppel des wunderschönen Neuen Rathauses sehen konnte. Wie kann man da nicht durch und durch schwach, rot oder rotschwach werden! Das war das »eigentliche erste Mal«. Mehr konnte ich nicht mit nach Hause nehmen …

      Zwischen dem eben beschriebenen und dem wahren ersten Mal liegen vier Jahre. In diesen Jahren ist nichts Wichtigeres passiert, als dass ich in dieser Zeit zu einem echten, stolzen Hannoveraner geworden bin.

      Ja, mein Spruch ist immer: »Hannover is everywhere!«, denn ein Hannoveraner (Emil Berliner) – war es, der im Auftrag der Firma Bell Telephone das Telefon perfektionierte, nebenbei patentierte er das Mikrofon und entdeckte die LP sowie das Grammophon. Unser Leibniz erschuf die erste Rechenmaschine der Welt, die Basis und Urgroßmutter des Rechners, der Hannoveraner Werner von Siemens hat die elektrische Lokomotive und den Telegrafen erfunden, anschließend legte er mit dem elektrischen Aufzug und der Straßenbahn