Wenn es um Fußball ging, konnte mein Vater eben ausgesprochen cool sein.
Einen Parkplatz für den 15-Tonner zu finden, war nicht einfach. Und dass wir unseren gesamten Hausstand, all unseren Besitz, und auch Pukki, unbewacht stehen lassen mussten, auch nicht. Zumindest nicht für meinen Vater. Mir hingegen war das ziemlich egal. Aufgeregt hüpfte ich vom Führerhaus, drängte zur Eile, fürchtete, keinen Platz mehr im Stadion zu finden. Überall waren doch so viele Menschen!
Die Sichtweise eines Zwölfjährigen ist noch unfertig. Mein größtes Erlebnis war bis dahin ein Konzert von The Sweet in der Dortmunder Westfalenhalle gewesen. In der kleinen wohlgemerkt; also der Westfalenhalle II. Das war meine einzige Orientierungshilfe für »Masse«. Und hier liefen mindestens genau so viele Menschen herum. Davon war ich zumindest überzeugt. Vor dem Stadion sogar lange Schlangen. Aufgeregt trieb ich meinen Vater zur Eile, fürchtete ein ausverkauftes Stadion. Und war plötzlich abgelenkt, als ich neben den Kassen einen fahrbaren Fanstand entdeckte. Oben drauf schwarz-gelbe Fahnen mit dem Wappen von Göttingen 05. Sieben Mark waren dafür fällig. Mein Vater hatte keine Chance. Aufgeregt schwenkte ich meine neue Fahne, als wir auf die Gegengerade marschierten.
Das Jahnstadion war anno 1975 wahrlich keine Schönheit. Keine Überdachung, durch die Leichtathletikanlagen sehr weitläufig. Die Gegengerade so flach, dass man selbst von ganz oben durch den Gitterzaun gucken musste. Ein rumpeliges, notdürft iges Zweitligastadion ohne jegliche Atmos phäre. Für mich der Himmel auf Erden. Meine neue Heimat. Dass es nur spärlich gefüllt war, entging meinen liebesblinden Augen. Vielleicht 2.000 waren es, die gekommen waren. Platz war für 24.000. Ob es am Gegner lag? Die Spielvereinigung Erkenschwick stand ein paar Spieltage vor Saisonende wie 05 in der Tabelle jenseits von Gut und Böse. Und repräsentierte zumindest in Göttingen eine dieser »grauen Mäuse«, die es damals in der 2. Bundesliga Nord zuhauf gab.
Vater hatte einen Vorteil gegenüber vielen der Stadionbesucher. Denn er wusste, wo Erkenschwick ist! Wir hatten ja in Mengede gewohnt, und von dort ist es nur ein Katzensprung nach Oer-Erkenschwick. Für einen Göttinger aber klang Erkenschwick exotisch unbekannt. Ich war stolz, als Vater unseren Nachbarn auf den Stehrängen verriet, dass er schon einmal dort gewesen sei und dass es bei Recklinghausen läge. Irgendwie waren Vater und ich damit so etwas wie Weltbürger in der Provinz.
Dann kamen die Teams und Dauerregen setzte ein. Ein trister, zutiefst unspektakulärer Frühsommertag. Nicht für mich. Die gelben Shirts der 05er kamen mir vor wie die Sonne, und »meine« Mannschaft endlich spielen zu sehen fühlte sich an, als sei ich an einem langersehnten Ziel angekommen. Unermüdlich schwenkte ich meine Fahne, die vom Regen klatschnass war und Vater immer wieder Wassertropfen zuschleuderte. Das Spiel erschloss sich mir nur bedingt. Im Grunde genommen hatte ich keine Ahnung davon. Fußball gesehen hatte ich bislang nur bei der WM ’74 im Fernsehen. Und natürlich kannte ich die Sportschau. Live im Stadion aber war das alles viel aufregender. Da fühlte ich mich als Teil einer wogenden Masse. Auch wenn das Stadion tatsächlich ziemlich leer war. Auch wenn das Spiel grottenschlecht und unsagbar langweilig war. Halbzeit 0:0. Nach 64 Minuten brachte »Patsche« Hansing 05 in Führung. Eine Viertelstunde später der Ausgleich für Erkenschwick. 1:1. Dabei blieb es. Im strömenden Regen des Göttinger Jahnstadions.
Mein erstes Spiel muss, nüchtern betrachtet, eine ziemlich abschreckende Erfahrung gewesen sein.
Später, als ich allmählich begriff, welch folgenschwere Entscheidung ich bei der Wahl meines Lieblingsvereins getroff en hatte, musste ich immer wieder an diesen Regen zurückdenken. Wie ich klitschnass meine ebenso klitschnasse Fahne schwenke. Glückselig und resistent gegen Niederschlag, Tristesse, leere Ränge. Heute schmunzle ich gern mal über meine eigene Fansozialisierung. Immerhin komme ich aus Dortmund, wuchs im Spannungsfeld von BVB und S04 mit dem Fußball auf. Ich könnte also BVB-Fan sein, ich könnte Schalker sein, auch wenn mein Vater das als Borusse vermutlich nicht geduldet hätte. Stattdessen wurde ich 05er. Und ließ 32 Jahre später im Mai 2012 eine 1:2-Heimniederlage in der fünft en Liga gegen den VSK Osterholz-Scharmbeck über mich ergehen, während der BVB in der Bundesliga mal wieder Deutscher Meister wurde. Umgeben von Göttingern, die den BVB als ihren Lieblingsklub bezeichneten und sich über die Meisterschaft freuten. Während ich als gebürtiger und auch noch immer leidenschaft licher Dortmunder dem Titelgewinn mit zwar schwarz-gelbem, aber eben 05er-Herzen, gleichgültig gegenüberstand und an der peinlichen Pleite gegen Osterholz-Scharmbeck nagte.
Mal ehrlich: Irgendetwas muss da doch schiefgelaufen sein?
Doch derart vorbehaltlos, wie ich Göttingen 05 bei meinem ersten Stadionbesuch begegnete, war die Sachlage eigentlich klar. 05 konnte tun, was es wollte, ich wäre geblieben. Das karge 1:1, die von meinem Vater als »grau sam« definierte Leistung, das leere Stadion, der überschaubare Fanblock neben dem alten hölzernen Ansagehäuschen auf der Hauptgeraden, der Regen, dem wir ungeschützt ausgesetzt waren – nichts konnte meine glühende Zuneigung zu Göttingen 05 bremsen. Und schon gar nicht der BVB, denn der war für mich ja nicht erreichbar. Zu 05 hingegen konnte ich fortan alle zwei Wochen gehen. Und wie geht Liebe, wenn man sich nicht ständig sehen kann? Fernsehfußballfan hätte ich nie werden können.
Nach dem Schlusspfiff schlurften wir klatschnass zu unserem 15-Tonner zurück. Rumpelten hinauf nach Geismar, in unsere neue Wohnung. Wie die Möbel ins Haus kamen, weiß ich nicht mehr. Wie wir den ersten Abend in der neuen Wohnung verbrachten auch nicht. Aber ich weiß noch, wie ich meine schwarz-gelbe Fahne stolz in mein neues Zimmer trug und die Wände nach dem besten Platz absuchte. Fortan war ich 05er. Zur neuen Saison gründete ich mutig einen Fanklub, nachdem sich eine Klassenkameradin ebenfalls als 05-Fan geoutet hatte. Zum Einstand der »Schwarz-Gelben Löwen« gab es ein 3:0 gegen Tennis Borussia, und dass 05 in derselben Saison auch den BVB mit 3:0 abfertigte, sorgte für schlechte Laune bei meinem Vater, die ich insofern zu meinen Gunsten nutzte, als ich ihm kommentarlos ein BVBFähnchen mitsamt einer Schachtel Streichhölzer auf den Küchentisch legte.
Wie jeder Fan (außer denen der Bayern) habe ich meine Wahl seitdem zigtausendfach bereut und mich hundertmillionenfach darüber gefreut. Natürlich hätte ich mit dem BVB oder Schalke viele große Erfolge feiern können. Stattdessen musste ich 2003 die Auflösung meines Klubs miterleben, beim Neustart in der achten Liga selbst mit Hand anlegen. Als Borusse oder Königsblauer würde ich zu Europapokalspielen fliegen, meine Mannschaft im Fernsehen sehen, überall Fans meines Klub begegnen. Mit 05 war ich schon in Käffern wie Landolfshausen, Ihrhove und Hillerse, freue mich über gelegentliche halbseitige Spielberichte im hiesigen Provinzblatt und ernte regelmäßig mitleidige Blicke, wenn ich von meinem Lieblingsverein erzähle.
05-Fan geworden zu sein war eben die beste Entscheidung meines Lebens. Danke Papa, dass du damals so cool warst und angehalten hast!
Ein Schalker verabschiedet sich
Susanne Breuer
geb.: 1962
Verwaltungsangestellte
Sympathisantin des FC Schalke 04
Das ist die Geschichte meines Schwagers Rolf. Er hat sie mir erzählt, als vor kurzem sein Vater plötzlich und unerwartet verstarb. Es sind unter anderem diese Erinnerungen, die helfen, die Trauer, den Verlust zu verarbeiten. Es sind