Der Weg führte an die Holzbude, vor der die Schlange klein und die Chance groß war, dass die Kassiererin ein Auge zudrückte und mir die Eintrittskarte, nur unwesentlich größer als eine Briefmarke aber mit dem gleichen gezackten Rand, kosten- sowie wortlos unter die Hand schob. »Stehplatz« stand drauf und schon war man drin in meiner Kathedrale. Der Heimat meines Fußballgottes, den ich in meinem Nachtgebet so oft anrief. Ich hatte für ihn immer einen Platz freigehalten, gleich neben mir auf der nur noch spärlich mit Gras bewachsenen Beton-Treppe. Hier. In meinem Stadion.
Am Eingang, zwischen Pissoir und Pforte, stieg einem schon dieser Duft in die Nase, diese Mischung, die es nur hier gab: ein kräftiger Ton aus Urinstein, Fett, Zwiebel, Fisch, Bier, Nikotin und dieser zarten Brise frisch gemähten Rasens. Die aus Richtung Blechrinne ans Ohr dringenden Männergespräche waren voller politischer Unkorrektheiten, es gab noch Schlachten zu denen unter Absingen schmutziger Lieder gebummelt wurde und es gab keine Damentoiletten weit und breit.
Man stand ebenso bedächtig wie bedröppelt im Regen. Kein Ersatzhimmel, der sich wie von Geisterhand gesteuert über uns spannte, wenn es tröpfelte. Wenn es schüttete durften wir mit unseren bematschten Schuhen klitschnass auf die Tribüne stiefeln. Manchmal. Kein Zweifel: Es war der schönste Ort auf der Erde. Nicht ums Verplatzen wollte ich woanders sein.
Aber irgendwann ging’s nach Hause. Manchmal schlich ich. Oft sprang ich. Und meine Eltern mussten gar nicht erst danach fragen, wie das Spiel ausging. Ich trug mein Fußballherz auf den Lippen in die Wohnung. Wenn ich pfiff, hatten wir gewonnen. Wenn nicht, war’s der Schiri.
Mein erster Stadionbesuch? Wo er war? In Zwickau, Hannover, Bremen. In München, Köln und Gladbach, in Berlin und Augsburg, in Meppen und Salmrohr. An der Hafenstraße, im Volkspark, am Valznerweiher, auf dem Bökelberg, in der Nibelungenstraße, beim ASV Hollfeld. Mein Stadion war nach regionalen Größen benannt, nach Wald-, Feld- und Wiesen-Lage, nach Stadtteil oder Straße.
Mein erster Stadionbesuch. Ich weiß noch wie er schmeckte, wie er roch, wie er sich anfühlte, wie er mich verführte, mein Leben veränderte. Wann er war? Ich weiß es nicht mehr. Gegen wen? Keine Ahnung. Ist das wichtig?
Meinem ersten Stadionbesuch sollten Hunderte andere folgen. Jeder individueller als der andere und doch nur schlechte Kopien. Jeder raubte mir ein Stück Mystik, viele Illusionen, Herzblut, ein bisschen mehr als einsfuffzig für die Bratwurst und ganz viel Pissoir. Nur den Senf dazu, den gab es weiterhin: herausgepresst aus Mündern und Tuben, an Buffets und Bars, in Logen und Lounges, auf Teppichen, Parkett und Porzellan. Der Zauber verfliegt in Multilevelimmerfunktionier-Arenen, die nach Assekuranzen benannt sind, nach Bieren und Banken, nach Spiel- und Automobilen, nach Energieversorger oder Montanhydraulikern. In warmen, becaterten, verglasten Ballsälen, in denen das Spiel da draußen lieber auf dem chiquen Flat-Screen hier drinnen geglotzt wird.
Mein erster Stadionbesuch. Es war mein bisher einziger!
Christian Frommert
Wer braucht schon Europapokal?
Hardy Grüne
geb.: 1962
Freier Journalist und Lektor
Fan von Göttingen 05
Wenn es um Fußball ging, konnte mein Vater ausgesprochen cool sein. So wie am 24. Mai 1975, dem Tag unseres Umzugs von Dortmund nach Göttingen. Seit dem frühen Morgen zockelten wir nervtötend langsam durch die Landschaft. Mit einem Möbelwagen kommt man halt nicht so flott voran, zumal mein Vater die eigentümliche Angewohnheit hatte, Autobahnen zu meiden und stattdessen ausnahmslos Landstraßen zu benutzen. Ob das daran lag, dass er zur letzten Kriegsgeneration zählte und Autobahnen unheimlich fand? Keine Ahnung, jedenfalls quälten wir uns in einem muffigen und bis unters Dach vollgepropft en 15-Tonner über schmale Landstraßen, passierten Örtchen wie Brilon, Warburg und, jetzt bitte nicht lachen, Erbsen und näherten uns im Schneckentempo Göttingen. Meiner neuen Heimat.
Ich war zwölf und voller trauriger Wut. Ich wollte nicht weg aus Dortmund, von meinen Freunden, von meinem Leben. Vom Mengeder Volksgarten, wo ich mir erste Meriten als Reinkarnation eines bärbeißigen Terriers namens Berti Vogts erworben hatte. Mit meinem fußballerischen Talent war es nicht allzu weit her, doch einen Gegner zudecken und ihn mit wütenden Tritten bearbeiten, sobald er an den Ball kam, das konnte ich.
Doch nun hockte ich auf dieser rumpelnden Dieselschleuder und dachte mit bangem Herzen an mein neues Zuhause. Hinten im Laderaum unser gesamter Hausstand. Auf dem Schoß mein Meerschweinchen Pukki, das mit starren Augen aus seinem Käfig glotzte und an trockenen Grashalmen mümmelte.
Was mich in Göttingen erwarten würde, wusste ich nicht. Vater hatte dort einen neuen Job gefunden. Ich würde eine neue Schule besuchen, neue Freunde finden. Und in der Provinz verdörren. Da war ich mir sicher. Denn, also bitte: Göttingen! Gibt es eine piefigere Kleinstadt für jemanden, der mitten im Ruhrgebiet aufgewachsen ist?
Nur eine Aussicht versetzte mich in Aufregung: Fußball. Fußball würde mich erwarten in Göttingen. Endlich! Ich war Spätstarter. Erst bei der WM 1974 hatte ich entdeckt, dass ich Fußballfan bin. Durch die Holländer, die mit ihren orangefarbenen Klamotten und lauten Gesängen durch die Dortmunder Innenstadt gezogen waren. Während mein Vater eilig vor ihnen geflohen war, blieb ich stehen und staunte. So wollte ich auch sein. Doch wie? Wir wohnten in Mengede. Eine gefühlte Weltreise vom Westfalenstadion entfernt. Zudem war Vater, eigentlich glühender Borusse und 66 beim Europacupsieg live dabei, auf den BVB nicht mehr gut zu sprechen. Der Abstieg aus der Bundesliga hatte ihm das Herz gebrochen. All mein Bitten und Flehen, doch endlich mal zu einem Spiel zu fahren, war an seinem Starrsinn (»Die spielen doch nur noch 2. Liga!«) abgeprallt. Seit fast einem Jahr war ich nun schon Fußballfan, verfolgte jeden Samstag »Sport und Musik« mit Kurt Brumme, doch im Stadion war ich immer noch nicht gewesen.
Und nun Göttingen. Dass meine neue Heimat tiefste Fußballprovinz war, ahnte ich nicht. Wie auch? Immerhin spielte Göttingen 05 wie der BVB in der 2. Bundesliga Nord, fand der Verein im Bergmann-Sammelbilderalbum der Saison 1974/75 statt, horchte ich seit Wochen aufmerksam auf, wenn bei »Sport und Musik« die Zweitligaergebnisse kamen. Göttingen 05 war zwar nur im Mittelfeld der Tabelle angesiedelt, doch ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn der Name fiel. Noch in Dortmund knüpfte ich ein emotionales Zweckbündnis mit Göttingen 05. Eine zunächst platonische Fernbeziehung, gespeist aus reiner Vernunft. Von wegen Nick Hornby und »wir suchen uns unsere Vereine nicht aus«. Ich suchte mir meinen Verein im vollem Bewusstsein aus! Denn seit ich wusste, dass wir nach Göttingen ziehen werden, war 05 mein Lieblingsverein. Ohne das Team jemals gesehen zu haben. Ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wie es in Göttingen aussieht. Einfach aus der Verlockung heraus, dass mein Vater mir nach unserem Umzug nach Göttingen endlich den ersten Stadionbesuch versprochen hatte. Was ich über Göttingen 05 wusste, stand im Bergmann-Sammelbilderalbum. Gelbe Trikots, schwarze Hosen. Wie Vaters BVB. Das fand ich einen guten Start. Auf dem Teamfoto sah ich mutige, entschlossene Männer. Mein Team!
In der Schule in Deininghausen kannte niemand Göttingen 05. Da zählte nur Borussia oder Schalke. Mir war es egal. Mit Vaters Versprechen in der Hand hatte ich sämtliche Spielernamen gelernt, konnte auf dem Mannschaftsbild jeden zuordnen. Den langen Manfred Zindel mit den tollen Freistößen. Lothar Hübner, vordere Reihe ganz links. Der blonde Verteidiger Harald Evers. Helmut Hinberg, der Libero mit dem ernsten Blick. Torhüter Albert Wenzel im grauen Sweater. »Ede« Wolf mit diesen ultracoolen Koteletten. Frank-Michael Schonert, der in der kicker-Torschützenliste ganz oben stand. Mein Team! Mit vollem Herzen stürzte ich mich in etwas, das sich als »amour fou« entpuppen sollte. Aber, bitte: Ich war doch erst zwölf! Was wusste ich schon von tragischer Liebe?