Meine Gedanken schwirren wild hin und her. Jetzt, wo ich den Schlüssel im Schloss zu der Tür mit den Erinnerungen in meinem Kopf geöffnet habe, rauschen die Bilder nur so heraus. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals runter, spüle mit einem Schluck Wein nach. Dr. Conners kalte Augen verfolgen mich jede Nacht in meinen Träumen. Ich habe das Gefühl, ihn durch meine Flucht zu verraten. Mary wird wissen wollen, was passiert ist, sie hat das Recht dazu, die Wahrheit zu kennen. Ich würde es an ihrer Stelle auch erfahren wollen, doch diesen Gefallen kann ich ihr nicht tun, geschweige denn, mein Beileid bekunden. Vor seinen Blicken in meinen Träumen bin ich machtlos, davor kann ich nicht weglaufen. Ein so gutmütiger Mann und dann dieser schreckliche Tod. Er hat es keinesfalls verdient, niemand hat das. So sehr ich versuche, die Bilder zu verdrängen, desto präsenter sind sie.
All das Geld, was für mein Studium bestimmt gewesen ist, ebenso all das Geld, was meine Eltern mir vererbt haben und das, was ich mir selbst zur Seite gelegt habe – es wird einige Zeit reichen, danach sehe ich weiter. Ich werde Gras über die Sache wachsen lassen, ehe ich mir vielleicht einen Job suche. Ein bis zwei Jahre kann ich so durchhalten, wenn ich sparsam bleibe. Ich habe mein altes Auto verkauft, an Menschen, die sich nicht mit Papieren aufhalten, und mir einen neuen Wagen angeschafft, von denselben Leuten, zusammen mit einem neuen Namen. Aus Hazel Summer ist Hazel Smith geworden. Ich weiß, es ist riskant, Hazel zu behalten, aber außer meinem Vornamen ist mir nichts geblieben.
Meine damals dunkelrot gefärbten Haare, sind heute naturblond, zudem viel länger als früher. Aus dem modischen Bob ist jetzt eine lange Mähne geworden, die weit über meinen Rücken hinabfällt. Manchmal erkenne ich mich selbst kaum wieder und doch bin es irgendwie immer noch ich. Wie kann ich mir so fremd sein?
Ich bin bis auf diese kleine Insel geflüchtet, hier kann ich für mich sein. Nur zum Einkaufen muss ich mein Grund und Boden verlassen. Seit drei Wochen bin ich jetzt hier, hoffe, dass ich mich irgendwann heimisch fühlen und mir wieder ein wenig mehr Leben aufbauen kann. Es ist so schwer gewesen, etwas zu finden, wo ich mich auch nur ansatzweise sicher fühle. Sicher? Lachhaft. Aber hier, Meilen um Meilen von dem Ort meiner Albträume entfernt, schaffe ich es möglicherweise, ein wenig zu mir selbst zu finden. Storm und ich. Du bist nicht alleine, erinnere ich mich. Mit einem müden Lächeln proste ich Storm zu: »Wir beide meistern das!« Er hebt den Kopf von meinen Beinen an, legt ihn schief zur Seite. Seine treuen Augen mustern mich aufmerksam. Was meine Grandma wohl macht? Sie fehlt mir am meisten, immerhin ist sie meine alleinige noch lebende Verwandte. Einzig durch mein Verschwinden ist sie ebenfalls in Sicherheit. Das ist alles, was zählt, egal wie sehr sie mir fehlt. Storm brummt, stupst mir mit der Nase auffordernd ans Bein. »Du hast schon wieder Hunger, was?« Er dreht sich aufgeregt im Kreis, woraufhin ich kichern muss. »Okay, verstanden.«
Motiviert stehe ich auf. Ab jetzt wird alles anders, und damit fange ich direkt an – ich werde mal wieder etwas Leckeres für mich kochen. Meine Kleidung ist viel weiter geworden, zu weit. Kummer und Angst haben mir den Appetit genommen. Das Essen an den Raststätten hat den Rest dazu beigetragen. Kummer schlägt mir auf den Magen, seit eh und je. Das liegt jetzt hinter mir, erinnere ich mich abermals. Ich trinke den Rest Wein auf Ex, nehme das leere Glas mit in die Küche, die schon bald nach frischen Kräutern, Knoblauch und Tomatensauce duftet. Meine Vorräte, die ich mitgebracht habe, gehen langsam zu Neige, also werde ich in absehbarer Zeit über meinen Schatten springen müssen und das erste Mal den Supermarkt der kleinen Insel aufsuchen. Das wird wohl mein größter Test werden: Einkaufen gehen wie jeder normale Mensch, auch wenn es mir Unbehagen beschert. Keine große Sache, das kann ich schaffen, denke ich, während ich eine Kerze anzünde und mich an den Tisch setze. »Willkommen in deinem neuen Leben«, murmle ich, ehe ich es mir schmecken lasse.
Vogelgezwitscher weckt mich am nächsten Morgen, während ein paar Sonnenstrahlen vorwitzig durch die Rollläden scheinen, dem Boden so ein neues Muster verpassen. Gähnend schaue ich zum Wecker, halte überrascht inne. Es ist fast neun Uhr. Wow, wenn das mal kein gutes Zeichen ist! Sonst wache ich immer viel früher auf. Wenn die Träume mich quälen, ist an weiterschlafen nicht zu denken, aber so spät? Wahnsinn. Ich fühle mich sogar ziemlich ausgeruht und erfrischt. Was ein Gläschen Wein und gutes Essen so bewirken kann! Ich strecke mich, genieße das Ziehen meiner Muskeln, schaue neben das Bett. Feixend mustere ich meinen Hund, der auf dem Rücken liegt, alle Viere von sich gestreckt und leise schnarchend. Dieser Anblick ist herzerwärmend, entlockt mir jeden Tag aufs Neue ein Lächeln.
»So ein Wachhund«, murmle ich mit erhobenen Mundwinkeln, schleiche kopfschüttelnd aus dem Zimmer, um Storm nicht zu wecken. Dieser Hund ist die reinste Schnarchnase – vermutlich gibt es ein Faultier unter seinen Ahnen. Aber er passt zu mir, sein Leben ist genauso hart gewesen wie meins. Er ist ein Kämpfer. Ich habe ihn in einem Straßengraben gefunden. Ein kleines dreckiges Häufchen Elend, welches zu stark zum Sterben gewesen ist. Seine Geschwister haben es nicht geschafft, nur er hat überlebt – vergessen vom Rest der Welt, weggeworfen in einer Kiste, zurückgelassen und nicht gewollt. Er trägt Spuren und Narben wie ich. Innerlich sowie äußerlich, denn ihm fehlt ein halbes Ohr, für mich ist er jedoch perfekt. Als ich ihn angesehen habe, ist mir sofort klar gewesen, er gehört zu mir und ich gehöre zu ihm. Das Schicksal hat gewollt, dass wir uns finden und uns gegenseitig helfen, zu überleben. Vielleicht ist es albern, ans Schicksal zu glauben, mag sein, aber ich will nicht für immer einsam bleiben. Storm gibt mir das Gefühl, nicht mehr allein sein zu müssen, er ist meine neue Familie. Vor allem liebt er mich, wie ich bin.
Tiefe Trauer überkommt mich, als ich an meine Freunde und meine Großmutter denke. An Silvi, meine beste Freundin, die hochschwanger gewesen ist, als ich verschwunden bin. Ich werde ihr Kind nie kennenlernen, dabei sollte ich die Patentante werden. Das ist nun ein anderes Leben. Ich unterdrücke die Tränen, beginne damit, mir Frühstück zu machen. Nacheinander schlage ich die Eier in eine Schüssel, füge Vollkornmehl hinzu und etwas Milch, einen Hauch Vanille und eine Messerspitze Backpulver, ehe ich langsam Pfannkuchen in der gusseisernen Pfanne ausbacke. Der Duft lässt meinen Magen knurren, mir das Wasser im Mund zusammenlaufen, und hellt die trüben Gedanken auf. Nicht daran denken, sage ich mir immer wieder. Neues Leben! Nicht daran denken, denn das macht alles