Er hat sie erschossen. Sie beide. Er wird mich töten, wenn er mich in die Hände bekommt. Er darf mich nicht finden, niemand darf das, denn keiner wird mir glauben – ich kann ja selbst kaum begreifen, dass das wirklich passiert ist. Oh mein Gott. Er sollte ihn beschützen. Beschützen! Er ist Polizist und dafür da, Menschen vor den Bösen zu bewahren. Nun sind sie alle tot, ich werde die Nächste auf seiner Liste sein.
Kapitel 2 - Hazel
Müde schenke ich mir ein Glas Weißwein ein, trete damit hinaus in den Garten, der vom Licht der untergehenden Sonne in sanftes Rot getaucht worden ist. Wind spielt mit meinen Haaren und ich schaue mich um. Mein Garten, meiner. Das Gefühl, dass dieses Fleckchen mir gehört, ist unbeschreiblich. Ich lasse mir das Wort auf der Zunge zergehen. Meins! Etwas, das mir gehört, nach so langer Zeit – das gefällt mir. Es klingt so normal, wobei normal etwas ist, was mir seit einem Jahr fremd erscheint. Also genieße ich den Augenblick, bleibe stehen, mustere alles genau. Ich schaue, ob irgendwas, was zu meiner normalen Routine gehört, ungewöhnlich ist. Ich bin immer auf der Hut. Mir fällt nichts auf. Alles ist genauso, wie es sein muss, doch das Gefühl der Furcht ist allgegenwärtig. Wie eine zweite Haut ist es ein Teil von mir geworden, welche sich nicht abstreifen lässt, was auch gut ist, denn es macht mich vorsichtiger. Misstrauen und Achtsamkeit bestimmen mein Leben, mein Fortdauern, um genau zu sein. Im Überleben bin ich mittlerweile eine Meisterin. Alles ist ruhig, demnach atme ich erleichtert ein, lasse mich auf einem der Holzstühle nieder, die ich im Onlinehandel unter einem falschen Namen bestellt habe, denn mein altes Ich ist an jenem Tag mit Dr. Conner gestorben. Meine Beine lege ich auf dem Stuhl ab, der mir gegenübersteht, woraufhin ein zufriedenes Seufzen meinem Mund entfährt. Meins! Wann habe ich mir zuletzt solchen Luxus gegönnt, etwas wirklich meins zu nennen oder an eine richtige Zukunft zu denken? Ein waghalsiger Gedanke.
Ein Jahr auf der Flucht hat vieles verändert, aus mir eine andere Person gemacht. Kaum sitze ich tiefenentspannt da, legt Storm ihren großen Kopf auf meinen Schoß. Meine Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln. Sachte streiche ich meinem Hund über das weiche Fell, genieße die Nähe, jenes Wissens, dass ich trotz allem nicht alleine bin. Nicht mehr. Seit ich sie vor elf Monaten in mein Leben gelassen habe, gibt Storm mir ein Gefühl der Sicherheit. Sie ist eine Kämpferin und genau wie ich eine Überlebende. Exakt einen Monat, nachdem ich mein altes Leben hinter mir lassen hab müssen, haben wir uns getroffen.
Ich presse die Lippen zusammen. Ungern denke ich darüber nach, was ich verloren habe. Noch viel weniger an diesen speziellen Tag, der Auslöser für all das gewesen ist. Die furchtbarsten Stunden meines Daseins. Der Tag, an dem ich meine Freunde, meine Existenz und mein Leben verloren habe, nur weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen bin. Was ich hingegen seit zwölf Monaten nicht verloren habe, ist die Angst. Sie sitzt wie ein Schatten in meinem Nacken, verhöhnt und ermahnt mich zu gleichen Teilen. Aber ist es nicht besser, in Angst zu leben, als tot zu sein wie Dr. Connor? Manchmal weiß ich die Antwort nicht. Je nachdem, wie der Tag gewesen ist, oder in welchem schäbigen Motel ich gerade aufgewacht bin. Es hat Tage in diesem Jahr gegeben, an denen ist es definitiv verlockender gewesen, tot zu sein. Ich bin nie der ängstliche Typ gewesen – und jetzt? Der kleinste Schatten jagt mir schreckliche Furcht ein, ich hasse es. Hilflos … So kenne ich mich nicht. Im Gegenteil. Ich bin immer stolz darauf gewesen, so eigenständig zu sein. Ich habe alles im Griff gehabt, bin dabei gewesen, erfolgreich durchzustarten. Würden meine Freunde mich überhaupt wiedererkennen? Ich, die einst für jeden Spaß zu haben gewesen ist, versteckt sich nun am liebsten in ihrem Haus. Türen und Fenster fest verschlossen. Es widerstrebt mir ja selbst, aber was soll ich tun, wenn die Furcht größer ist? Ich weiß, dass ich mich in einem Trauma befinde, doch der Schuldige ist auf freiem Fuß und ich bin nicht bereit, zu sterben. Ich kann kaum zu einem Arzt gehen, ohne zu viel preiszugeben. Wie soll ich das also verarbeiten? Nein, er würde mich finden, denn ich weiß nicht, wer noch alles auf der Gehaltsliste dieser Organisation steht. Früher bin ich auf die Menschen zugegangen, mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Ich bin gesellig gewesen, kommunikativ, und habe Spaß am Leben gehabt, es genossen. Heute nehme ich die Beine in die Hand, wenn mir jemand zu nahekommt. Allein, aber sicher, denn ich kann niemanden trauen. Woher soll ich letztlich wissen, wer zu ihnen gehört und dass man mich nicht hinterrücks verrät? Ich habe meine Konten über Nacht online aufgelöst, alles, was ins Auto gepasst hat, mitgenommen und dann bin ich innerhalb kürzester Zeit verschwunden. Jeglichen Kram, der mir in die Finger gekommen ist, habe ich zu Geld gemacht, um mich über Wasser zu halten. Das Gute an meinem vorherigen Lebensstil ist gewesen, dass ich durch das Studium sehr sparsam gewesen bin. Da kommt einiges zusammen, auch das Erbe meiner Eltern. Mit diesem Geld bin ich vor dem, was ich gesehen habe und vor dem Mann, der Dr. Connor und ebenso unseren Patienten kaltblütig ermordet hat, geflohen. Niemand wird mir das je glauben. Wem soll ich vertrauen, wenn sogar die Polizei korrupt ist? Ich habe immer gedacht, so etwas passiert nur in Filmen. Filme, die ich früher gerne gesehen habe wohlgemerkt, weil ich es für pure Fiktion und nicht für die Realität gehalten habe. Jetzt, wo ich selbst mitten in einem stecke, brauche ich solche Filme nicht mehr. Mir ist auch bewusst, dass nicht alle Polizisten so sind, aber wie soll ich die Guten von den Bösen unterscheiden? Sie haben wohl kaum ein Zettel auf der Stirn kleben, der mir dabei helfen wird. Ich weiß, dass sie nach mir suchen. Es ist überall in den Nachrichten gewesen, auf jedem Sender und in jeder Zeitung des Landes. Sie suchen mich als wichtige Zeugin, erhoffen sich Details, was an jenem Tag geschehen ist. Details, die nur ich ihnen liefern kann, aber nicht werde. Sie wissen, dass ich etwas gesehen habe. Warum bin ich sonst verschwunden? Es wird spekuliert, ob ich zu der Gang gehöre, ein Opfer oder bereits tot bin, vergraben an einem unbekannten Ort. Sollen sie das ruhig denken. Nur er weiß, dass ich es nicht bin, denn niemand außer ihm hat das Interesse, mich tot zu sehen – ich weiß schließlich, wer er ist. Ich habe ihn im Fernsehen erkannt, heuchelnd und schuldbewusst gestanden, dass er kurz auf der Toilette gewesen ist. Lügner. Seine versteckte Botschaft an mich, wie er laut und deutlich zu der Presse gesagt hat: »Sollte sie noch leben, werde ich sie finden.« Ich weiß, er wartet nur darauf, dass ich einen Fehler mache. Dann wird er vor meiner Tür stehen, um mich zu holen. Aber ich bin nicht dumm und versuche, Fehler zu vermeiden. Bis zum heutigen Tag bin ich darin sehr erfolgreich. Dass ich noch lebe, ist der beste Beweis, oder? Schwachstellen