Nun gut: ich packte das Seil und hielt Gretel fest.
Jetzt rein in den Stall damit, sagte meine Mutter.
Aber die Frau und der Dackel hatten ihre Lehre: mein Schaf war kein gewöhnliches Schaf, und es ließ sich nicht von jedem Dackel einschüchtern. Im Gegenteil. Gretel machte es mit den Hunden, wie ich damals mit dem Schäferhund: es griff an, wenn man es bedrohte.
Als wir noch eine Kuh hatten, gab diese natürlich Milch. Die gab aber so viel Milch, daß wir sie nicht selber trinken konnten, sondern in der Molke abliefern mußten.
Es war eine Wunderkuh. Die verreckt noch, bloß an ihrer Milch; der gerinnt noch das Euter vor Milch, sagte meine Mutter. Und so war es ja dann auch: die Kuh verreckte, und wir hatten keine eigene Milch mehr im Haus.
Als wir die Kuh noch hatten, ging meine Mutter mit einer großen Kanne in aller Herrgottsfrühe in die Molke, und ich mußte natürlich mit, ich wollte mit, da gabs nichts!
Und auch später, als die Kuh verreckt war und wir unsere Milch zum Trinken in der Molke kaufen mußten, bin ich diesen Weg zur Molke und zurück gegangen. Allein. Mit einer Zweilitermilchkanne.
Immer ganz knapp an den Gartenmauern entlang bin ich gestreift, und immer wieder gabs einen Schlag mit der Kanne dagegen.
War die Milchkanne auf dem Rückweg voll, so setzte ich den Deckel drauf und schwang die Kanne durch die Luft, immer naseweis, ob die Milch auch drin blieb und der Deckel nicht fortflog.
Er flog nicht davon, und es blieb immer noch genug Milch in der Kanne, bis ich heimkam, einmal ein Maul voll mehr und einmal ein Maul voll weniger. Aber das würde sich ändern. Man lernte ja jeden Tag dazu beim Milchkannenschwingen, und sowieso war ich nicht der einzige, der das tat.
Geißenmilch schmeckte halt anders, das war keine Kuhmilch. Man erzählte sich, daß auch Schafe Milch gaben, aber die ist scheint’s nur für die Lämmer gut.
Ja, und dann gingen die Schafe eins um das andere weg, auch Gretel war dabei, aber ich konnte ihren Tod noch eine Zeitlang hinausschieben. Sie wurden alle gemetzget, es war ja Krieg, und man brauchte das Fleisch. Man brauchte auch die Wolle, da habe ich mehrmals zugeschaut, wie die Schafe bei uns in der Scheuer geschert wurden.
Wer die Gretel bekam, das weiß ich noch ganz genau: das war ein Lette, also kein Hiesiger, aber der wohnte seit dem Krieg im Dorf. Und er sagte, daß Schaffleisch zu seinem Lieblingsfleisch gehört. Und er zahlte auch ganz gut. Und ich brachte Gretel selbst zu dem Mann und in dessen Haus am Kanal hin. Ich führte das Schaf an der Leine, wie sonst auch; die Leute kamen aus ihren Häusern oder blieben auf der Straße stehen und lachten. Ich lachte auch. Wo gehts hin mit deinem Schafhund, fragten sie.
Ich schüttelte den Kopf und lief weiter. Ich war den Leuten nicht böse, so mußten sie fragen, gerade die Leute in den Straßen, durch die ich selten hindurchkam, wenn ich Gretel auf diese Wiese führte.
Ein Hund ließ sich auf der ganzen Strecke bis zu dem Letten am Kanal in Richtung Ort, in dem meine Ähne lebte, nicht sehen. Hier und da hörte man einen bellen, aber das waren so Köter, die bellten immer, einige kannte ich und verstand mich auch recht gut mit ihnen: das waren so Kerle, da brauchte man keinen Stock oder eine Wurst, daß sie friedlich wurden. Katzen waren etwas anderes, Katzen waren immer etwas anderes; die interessierte ja so etwas gar nicht, und ich betrachtete Katzen eigentlich weder als meine Freunde noch als meine Feinde. Die gab es einfach, die gehörten zum Dorfleben, und eigentlich gehörten die auch niemand; die kannte man auch nicht so gut auseinander wie die Hunde. Doch ich strengte mich auch gar nicht an. Die Gretel war an diesem Tag weder störrisch noch machte sie Luftsprünge vor Freude, so wie manchmal. Sie dachte vielleicht, jetzt gehts auf die Weide.
Es ging in das Haus von dem Letten am Kanal. Hinter der Haustüre führte eine Stiege nach oben. Von da kam der Lette herunter, nahm mir die Gretel ab und führte sie in die Scheuer. Da blieb ich noch kurz stehen und wartete, was nun geschah. Aber es geschah nichts.
Morgen, sagte der Lette, morgen kannst du kommen und zugucken: da wird dein Schaf gemetzget. Aha, sagte ich; gut, dann komme ich morgen. Wann? Gleich um acht. Gleich um acht, wiederholte ich.
Dann ging ich wieder. Das Geld hatte er meiner Mutter schon gegeben. Nun machte ich mich auf den Heimweg. Ich ging die gleiche Strecke, die ich gekommen war. Aber ich hatte kein Schaf mehr; keine Gretel – ein bißchen traurig war es schon. Punkt acht stand ich wieder vor dem Haus von dem Letten. Die Scheuer war schon offen – und die Gretel schon hee: in den Hals gestochen, auf das Hirn geschlagen. Ich hab mir gedacht, du kannst das nicht sehen, erklärte der Lette. Schon recht, sagte ich und ging näher ran. Es machte mir nichts aus, wie er meine Gretel zersäbelte – es war ja doch ein Tier und kein Mensch! Es dauerte nicht lange und das Schaf war in Teile geschnitten, das Blut in Schüsseln drin.
Zuletzt bekam ich noch ein Stück Fleisch mit heim, das sei so üblich, sagte der Lette. Es ist ein gutes Fleisch, nicht zu alt, gerade noch zur rechten Zeit. Und das Fell? fragte ich. Da mache ich mir vielleicht einen Kittel. Ich nickte und trottelte heim mit dem Stück Schaffleisch unterm Arm. Er hatte es vorher noch in Zeitungspapier eingewickelt. Aber schon nach hundert Metern merkte ich, daß es naß wurde unter meinem Arm. Dann nahm ich das Päckle auf die andere Seite.
Seckel
Dem Schäfer begegnete ich ja nochmal. Diesmal ohne Hund. Da mußte an der Kirche in der Dorfmitte etwas los gewesen sein, vielleicht kam auch eine Nachricht im Radio oder in der Zeitung, die den Schäfer aufbrachte und weshalb er mit den Leuten händelte – wie ein Verrückter, sagten die Leute.
Auf einmal deeberte er los, ich war gerade dazugekommen:
«Dia ghaerdad älle am Seckel an Kirchturm naufghängt!« Alle Leute blickten zum Kirchturm hinauf.
Er war ganz schön hoch.
Ich wußte nicht, wen der Schäfer da hinaufhenken wollte – an was, das verstand ich schon. Aber die Leute wußten es vielleicht. Jetzt lachten sie und liefen auseinander. Hat doch keinen Zweck, hörte ich noch einen Alten bruddeln.
Und ich drehte auch ab. Und der Schäfer wackelte weiter die Hauptstraße hinab – in die nächste Wirtschaft: in den »Anker«. Bestimmt war er besoffen, und jetzt gings weiter.
Kinderschüle
Ins Kinderschüle bin ich ja auch noch gegangen. Es gab zwei davon im Dorf, und zwar alle um die Kirche und die richtige Schule herum.
Ich bin in beide gegangen. Zuerst in das, von der Hauptstraße aus gesehen, hinter der Kirche.
Das war ein niedriges Holzhaus inmitten eines großen Gartens. Wenn ich zurückdenke, war meistens schönes Wetter, und wir hockten draußen, sandelten in den Sandkästen und schaukelten auf einer der zwei Schaukeln.
Das Schönste an der ganzen Sache Kinderschüle war aber das Vesper. Die Kinder hatten alle morgens ihr Täschle mitgebracht mit einem doppelten Brot drin oder einer Brezel und einem Apfel oder einer Birne. Zu trinken bekam man von den Tanten.
Die Täschle wurden alle gleich an die Haken der Garderobe gehängt. Da hingen sie nun in allen Farben. Und wenn es soweit war, nahmen die Tanten eine Handvoll weg und verteilte sie unter den Schreiern.
Wenn ich nur wüßte, wo das Täschle hingekommen ist, es war sicher aus Leder, und mein Ähne, der auch Stiefel und Geldbeutel selber machen konnte, hat es mir zusammengenäht. Vielleicht hat es meine Mutter auch fertig beim Sattler gekauft, und es ist dann an meine Schwester gegangen, und die hat es jetzt geliefert, also heegemacht.
Nachher sind wir dann in den anderen Kindergarten umgezogen, der hieß Hindenburgschule und war direkt an der Hauptstraße. Das Haus war viel größer und aus Stein, und über uns, da gab es noch mehr Räume, und da wohnten auch Leute.
Mörder
Manchmal – nicht sehr oft – kam mein Ähne von seinem Dorf auch zu uns herunter, um meiner Mutter zu helfen