Ich hatte an diesem Morgen nichts besseres zu tun als eine solche Scheibe von innen an die Stubentür zu nageln und meine ahnungslose Schwester darunter zu stellen. Ich hob den Bogen, zielte mit dem Pfeil – und hörte schon das Geschrei! Der Arzt, den meine Mutter zunächst holte, war unser Hausarzt – der andere, der jüngere, nicht der, zu dessen Vorgänger schon meine Großeltern gegangen waren. Schnee hieß der – wie der Schnee im Winter: er hatte einen Stock wegen seines lahmen linken Beines, das er von einer Verwundung in Rußland davongetragen hatte, so erzählte er es allen, ob sie es hören wollten oder nicht. Der Dr. Schnee war immer schlechter Laune – pünktlich und genau in seiner Arbeit war er, aber stets in schlechter Laune!
Als erstes knallte er seinen Stock auf den Tisch, wenn er in die Stube hereinkam, setzte sich auf einen Stuhl und rieb sich das Bein. Er mußte ja zu Fuß zu seinen Kranken kommen, er hatte nicht mal ein Fahrrad; da konnte ihm das Bein schon mit der Zeit schmerzen. Aber uns Kinder erschreckte er mit seinen Auftritten.
Ich ging deshalb lieber zu dem anderen, wenn mir etwas fehlte. Der hieß Dr. Etwas und war geradezu das Gegenteil von dem Dr. Schnee: immer höflich, immer lächelnd, mit zwei gesunden Beinen – halt nicht so pünktlich, aber auch nicht so genau bei der Arbeit, etwas schusselig und leicht vergeßlich. Man mußte ihm genau sagen, was man wollte, dann bekam man es auch von ihm. Aber zum Glück fehlte mir nicht viel, war ich nur selten krank, hatte nur wenig Rufen und Warzen im Gesicht und an den Händen. Nie brach ich mir ein Bein oder einen Arm.
Nur einmal wollte mein Husten ums Verrecken nicht weggehen; da schickte mich der Dr. Etwas zu meinem Großvater in die Höhenluft: da sollte ich vier Wochen bleiben und nicht eher herunterkommen. Tatsächlich verging dort oben auch bald der Husten – ohne Hustensaft und ohne Spritzen!
So wie damals bei meiner Schwester, hatte sich Dr. Schnee auch bei meinem Vater benommen. Der war im Urlaub aus dem Krieg da – von der Nachschubfront in Frankreich, Belgien und Holland – und war zu seinem Schwager zum Saufen gegangen. Er wäre wohl heute gar nicht mehr heimgekommen; meine Mutter hieß mich ihn holen, so wie ich ihn schon aus dem »Adler«, dem »Stern«, der »Traube« dem »Löwen«, dem »Anker« oder aus der »Kelter« geholt hatte.
Sie hatten von morgens bis mittags Most und Schnaps gesoffen, so erzählte es uns Onkel Fritz später, und er selber, mein Onkel Fritz, konnte gleich gar nicht mehr geradestehen: er fiel in der Küche um und blieb da bis zum anderen Morgen liegen.
Mein Vater konnte noch aufrecht gehen, das wußte man. Aber er schwankte diesmal doch mehr als sonst und brauchte die ganze Straße; meine Führung nützte da nichts, sie riß ihn nur noch mehr auf meine Seite.
Und am Anfang unserer Straße ließ ich ihn ganz los; er würde schon alleine heimfinden, wie ein Gaul oder eine Kuh, die ihren Stall nie verfehlte. Vor dem Haus fing er sich auch plötzlich wieder, schimpfte aber auf einmal mit den Nachbarn, niemand wußte warum. Dann öffnete meine Mutter das Fenster und rief ihn herein.
Ich komme schon, lallte mein Vater. Ich werd auch noch im Urlaub mal einen heben dürfen.
Ja, ja, sagte meine Mutter und schloß das Fenster wieder. Sie mußte sich nun in Richtung Haustüre bewegt haben, denn sie stand dann auch da, als es geschah. Mein Vater wollte wirklich ins Haus rein, vor der Haustüre blieb er nochmal stehen, und es sah so aus, als wollte er sich, bevor er die Haustüre öffnete, nochmals seine Stiefel an dem eisernen Schuhabputzer abstreifen. In diesem Augenblick stürzte er und schlug mit dem Gesicht auf diesem eisernen Schuhabputzer auf. Die ganze Stirn blutete, und eine Augenbraue hing weg; mein Vater versuchte sie mit der Hand wieder anzudrücken. Aber es gelang nicht. Rauf, rauf, schrie meine Mutter, die in solchen Lagen sehr kühl blieb. Und du – damit meinte sie mich – gehst und holst den Dr. Schnee. Ich machte auf dem Absatz kehrt und beste davon. Natürlich hatte ich Angst, ich weiß nicht, ob ich um meinen Vater mehr Angst hatte oder um meine Mutter – oder um uns alle.
Es war halt die Angst, daß da etwas geschehen war, von dem wir alle bedroht wurden, auch ich; und diese Angst ließ mich durch den ganzen Flecken reifeln bis in den unteren Teil, wo der Dr. Schnee seine Praxis hatte. Dann kam er endlich, selber schon nicht mehr völlig nüchtern – und knallte als erstes seinen Stock über den Tisch, an dem mein Vater hockte und schimpfte: Was wollen Sie? Ich brauche Sie nicht. Wer hat Sie gerufen?
Ihr Sohn ist zu mir gekommen, sagte Dr. Schnee und begann in aller Ruhe seine Arzttasche zu öffnen. Ja, er hatte Fronterfahrung, das hatte man sich erzählt; in Rußland hatte er noch ganz andere Fälle zu behandeln. Und wenn er etwas getrunken hatte – Schnaps oder Bier oder Most –, dann war mit ihm eher zu geschirren, und er reagierte auch nicht mehr so mürrisch, sondern ließ auch einmal den andern, den Patienten, zu Wort kommen.
Sie brauchen gar nichts auszupacken; mir fehlt nichts, beharrte mein Vater. Ich weiß, sagte Dr. Schnee, Leuten von Ihrer Art, Herr Simpel, fehlt immer nichts, bis ihnen mal etwas fehlt, dann fehlt ihnen alles – nämlich der Verstand!
Ich bin Soldat, bruddelte mein Vater, nun schon etwas zahmer.
Das wissen wir doch; wenn wir das nicht wissen. Dr. Schnee hatte wirklich eine Spritze vorbereitet, und ich war neugierig, wie er sie meinem Vater verpaßte, und ob er sich das gefallen ließ. Aber mein Vater kam gar nicht dazu, sich zu wehren, da hatte er die Spritze schon im Ranzen. Ja, das machte sicher die Fronterfahrung von dem Dr. Schnee aus.
Ich bin Soldat, ich kann auf die Zähne beißen; ich brauche keine Spritze, wiederholte mein Vater. Aber es klang schon recht müde.
Dr. Schnee nähte ihm rasch die Fleischlappen wieder an, machte einen Verband um seinen Kopf und begann wieder seine Tasche zu packen.
So, Herr Simpel, jetzt gehen Sie ins Näscht, und dann wird man sehen, wann Sie wieder an die Front können.
Sie haben mir gar nichts zu befehlen, mußte mein Vater noch hervorbringen, bevor er tatsächlich in die Kammer wankte. Legen Sie ein Handtuch auf das Kissen, riet der Arzt meiner Mutter; es drückt immer noch ein bißchen durch.
Aber meine Mutter hatte selber schon daran gedacht und das Bett entsprechend präpariert.
Ja, man hat’s schon schwer in dieser Zeit – und Sie auch, Frau Simpel.
Ich dank auch schön, Herr Doktor, sagte meine Mutter. Sie hatte eine Schüssel mit Wasser, Seife und Handtuch hereingebracht: Der Doktor wusch sich die Hände und stockte wieder laut die Stiege hinab, ohne von dem Schnaps genommen zu haben, den ihm meine Mutter auf den Tisch gestellt hatte.
Der Ähne
Jetzt sollte ich erst noch etwas von meinem Ähne (Großvater) erzählen, von dem, der noch lebt. Bei ihm habe ich schließlich das Bauernhandwerk gelernt, den Umgang mit den Kühen; das Melken, das Stallausmisten, das Futterholen, das Mähen, das Äpfel-, das Birnen- und das Kirschenheruntertun und noch vieles mehr, was man in der Landwirtschaft halt macht und was man läßt – und das ist genausoviel wie das, was man tut.
Diese Arbeit gefiel mir auch, und sie machte mir keine Schwielen in die Hände, und auch das Kreuz tat mir nicht weh.
Ich sei halt ein Schaffer, so sagten die Leute.
Aber ich durfte nicht alles schaffen, was ich wollte und was ich in meinem Alter vielleicht auch sollte. Es sei zu gefährlich für mich, hieß es. Immer wenn ich vom Tal heraufkam – verschwitzt, dreckig, hungrig, durstig – stellte mir mein Ähne als erstes ein Gläsle Most auf das Tischeck in der Stube. Ich sagte auf das Tischeck, und zwar an den äußersten Rand des Tisches, so daß das Glas vom schieren Hinschauen hinunterzupurzeln drohte.
Das war seine Art, über die meine Ahna (Großmutter) zeitlebens den Kopf schüttelte. Aber es half nichts: bestimmten Leuten – mir und meiner Mutter, nicht meinem Vater – stellte er zum Willkommen ein Glas Most direkt auf die vordere Ecke des Tisches in der Stube hin, daß man nur scharf zu gucken brauchte, und das Glas fiel samt Inhalt