Was hat er Ihnen gesagt, was er in der Zukunft sieht?
Er hat gesagt, daß wir den Krieg verlieren.
Und was haben Sie als Hitlerfrau geantwortet? Sie sind doch eine Hitlerfrau? Ihr Mann ist bei der Waffen-SS; er war bei der SA: er ist ein »Alter Kämpfer«.
Dieser Freßsack, elendiger; Blitz, daober!
Ich habe gesagt, das glaube ich nicht.
Sonst nichts?
Freßsack . . .
Er hat den Untergang Deutschlands prophezeit. Ich habe das alles nicht geglaubt und habe ihm gesagt, ich möchte das gar nicht hören.
Sie hätten den Mann anzeigen müssen.
Aber . . .
Glauben Sie denn auch an den Untergang Deutschlands?
Das sagte einer für beide, ich weiß nicht welcher: aber alle zwei starrten jetzt meine Mutter an, der Most war gesoffen und die Hälfte von dem angeschnittenen Brotlaib gefressen. Ich kümmere mich nicht um Politik, das macht mein Mann, der ist jetzt aber im Krieg; Sie können ihn ja in Holland besuchen, wenn Sie wollen.
Nicht nötig, Frau Simpel. Wir möchten Sie nur warnen, in Zukunft solche Subjekte bei sich im Haus aufzunehmen, und wenn wieder mal so eine Gestalt an Ihre Haustüre klopft, dann melden Sie das. Wir müssen jetzt gehen.
Jawoll! Möchten die Herren nichts mehr? Noch während sie fragte, räumte meine Mutter den Tisch ab – vielleicht aus Angst oder Verzweiflung, weil die Herren auf einmal so ernst geworden waren. Aber zum Glück gingen sie jetzt. Ich verkroch mich noch mehr hinter dem Ofen und kam erst hervor, nachdem sie zur Tür hinaus und die Stiege hinuntergepoltert waren.
Ich blieb in der Stube, stellte mich ans Fenster und beobachtete, wie sie ans Auto liefen, einstiegen und wegfuhren. Vorher hatten sich beide nochmal umgeschaut und sich zugenickt. Freßsack, elendiger, dachte ich; Blitz daober – abhauen! Aber schnell! Sonst krachts!
IV.
Ein Dackel
Jetzt kommst mal her; du bist doch unser Bua, sagte meine Mutter zu mir, als wir aus Tübingen zurückkamen.
Meine Eltern waren zusammen mit mir in die Klinik bestellt worden. Mein Vater hatte gerade Urlaub, und er war in vollem Wichs erschienen: SS-Uniform und schwarze Rohrstiefel, Koppel mit Ehrendolch.
Ich hatte einige Untersuchungen über mich ergehen lassen und verschiedene Spiele machen müssen; ich wurde auf eine Pritsche geschnallt und an einen Haufen Drähte angeschlossen.
Ich verstand nicht recht, was mit mir geschah; ich sah Schwestern und Ärzte immer nur den Kopf schütteln. Manchmal machten sie sehr ernste Gesichter, dann versuchten sie mich wieder mit einem Lachen bei Laune zu halten. Es war mir aber egal, was sie mit mir machten; ich würde schon nicht sterben, und Angst hatte ich nur ein bißchen. Wenn es arg wehtat, dachte ich an unsre Frau Klein aus dem Kinderschüle: die hatte einen Klumpfuß, der tat ihr auch sehr oft weh, sagte sie uns. Besonders, wenn sie schrie: dann hieß das, sie habe große Schmerzen.
Sie hatte keinen Mann mehr. Oder doch. Der war aber fort. Nicht im Krieg. Er sei eingesperrt, sagte sie. Ja, wo denn? Im Gefängnis? Nein, in einem Lager.
In was für einem Lager? In so einem Lager, wie wir welche am Bach bauten? Zwischen den Holderbüschen . . . Nein, nein! Zuerst sei er in Heuberg gewesen, Heuberg auf der Schwäbischen Alb; dann sei er verlegt worden. Wohin verlegt? Ach, es gäbe so viel Lager in Deutschland und außerhalb; das dürfe sie uns nicht sagen. Wir sollten jetzt wieder spielen.
Ich ließ aber nicht locker: was ihr Mann denn getan habe; warum er denn in ein Lager gekommen sei. Mein Vater sei auch einmal in Heuberg gewesen. Aber nicht als Gefangener, unterbrach Frau Klein. Nein, als Bewacher, sagte ich; damals sei ich aber noch nicht auf der Welt gewesen oder erst in dieser Zeit auf die Welt gekommen; es sei aber immer wieder im Haus davon gesprochen worden, weil da noch einige Leute vom Dorf in Heuberg waren, auch Schulkameraden meines Vaters . . .
Sie wolle nicht darüber sprechen, schloß Frau Klein dieses Gespräch.
Komisch, daß ich jetzt an sie denken mußte, und daß das jetzt ein Trost für mich sein soll!
Während des gesamten Aufenthalts im Krankenhaus hatte ich kein einziges Wort gesprochen, auch nicht geweint; ich hatte nur zugehört und gewartet, was nun mit mir geschah. Zweimal saßen wir in dem Wartezimmer und warteten gemeinsam mit anderen Eltern und ihren Kindern. Bis uns die Schwester endlich ins Sprechzimmer hereinrief und wir vor dem Schreibtisch des Arztes Platz nahmen. Der war freundlich, aber nicht verschrocken.
So legte er gleich los: Es sieht nicht gut aus mit Ihrem Jungen, das muß ich Ihnen ehrlich sagen. Aber wir müssen noch die Tests machen und das Ergebnis abwarten.
Um Gottes willen, Herr Doktor, platzte meine Mutter heraus.
Muß er nach Zwiefalten?
Nein, das nicht; er kann in jedem Fall daheim bleiben.
Gibt es da nicht Probleme?
Kaum.
Aber was ist das?
Ihr Sohn, setzte der weiße Kittel an: Ihr Sohn ist nicht krank. Ihr Sohn ist aber auch nicht gesund. Ihr Sohn . . .
ischt a Dackel! rief mein Vater dazwischen, und das sah ihm wieder gleich, einem Doktor ins Wort zu fallen, und vollends in Tübingen!
Ja, auf Schwäbisch heißt das wohl so, sagte der Arzt.
No wissmrs jo, was mr zom dua hääbe, sagte mein Vater und stand auf.
Nein, bitte, behalten Sie Platz; so wollen wir doch nicht miteinander umgehen, in diesem Ton, meine ich, Herr Simpel.
Ich habe zwei Kinder gezeugt.
Ja, freilich.
Alle sind gesund, wie ich auch und meine Frau auch. In meiner ganzen Familie kommt so etwas nicht vor.
Es ist auch etwas anderes.
Was?
Ihr Sohn ist, mal vorsichtig ausgedrückt: nicht entwicklungsfähig; er hat einen gewissen Intelligenzstand erreicht. Doch das Gehirn ist gesperrt, verstehen Sie.
Noe! Auch meine Mutter verstand nicht.
Na ja; einen Geburtsschaden oder eine Vererbung schließen wir aus. Da gabs doch diesen Schlittenunfall?
Ja!
Also . . . Da ist der Karl doch auf den Baum gefahren; er trug eine Gehirnerschütterung davon und war drei Wochen bewußtlos. Stimmts?
Ja; aber von einer Gehirnerschütterung wird man doch kein Dackel, erklärte mein Vater, er war jetzt schon nicht mehr so narret.
Na ja; in der Regel nicht. Aber es gibt Ausnahmen, vor allem, wenn jemand so lange Zeit bewußtlos ist, so wie es ihr Sohn Karl war. Aber ich tröste Sie: es kann sich bessern. Wir haben schon Fälle gehabt, da war die Ausgangslage noch schlimmer. Jetzt wollen wir aber erst einmal zur Untersuchung, schloß der Doktor und gab der Schwester einen Wink, die schon unter der Tür gewartet hatte.
A Dackel ischt a Dackel, bemerkte mein Vater noch im Hinausgehen, aber mehr zu sich als zu anderen.
Na ja, murmelte der Arzt.
Wir hatten uns schon sehr früh auf den Weg machen müssen. Zuerst vom Haus zu Fuß zum Bahnhof. Vom Bahnhof mit dem Zug in die nächste Stadt. Dort umsteigen und fahren bis Tübingen. In Tübingen vom Bahnhof aus zu Fuß in die Klinik.
Da vergeht Zeit.
Wäre ich ernsthaft krank gewesen oder hätte ich einen Unfall gehabt, dann hätten wir Anspruch auf ein Taxi gehabt. Und da gabs im Flecken nur eins, nämlich