Er soll sich selbst beschäftigen, erklärte mein Vater.
Das sagst du so; du bist ja die meiste Zeit nicht da. Der Amtsarzt sagt: dem Karl fehlt manchmal die Verantwortung – fast so wie euch!
Die letzten Worte hatte mein Vater sicher nicht mehr gehört – wozu sollte er auch? Er kannte sie auswendig.
Denn noch während meine Mutter sprach, hörte ich ihn schon die Stiege hinabsetzen.
Ich rannte zum Fenster, da sah ich ihn: mit festem Schritt und Tritt ging er die Gasse hinab. Bestimmt zitterten jetzt links und rechts in den Häusern die Gläser und Tassen auf den Tischen. Einen solchen Tritt habe nur einer, nämlich der Simpel-Helm! Genauer gesagt, sei es der Hahn-Tritt seiner mütterlichen Vorfahren: die hätten schon so die Füße auf den Boden gesetzt, daß die Welt erzitterte und man sie schon von weitem hörte.
Bestimmt ging er jetzt in den »Adler«, in den »Löwen«, in die »Traube« – seltener in den »Grünen Baum« – oder in das »Waldhorn«, das am nächsten war. Natürlich konnte er auch in die »Linde« gehen, das Stammlokal seiner Partei. Da kam auch noch der »Stern«, der »Anker«, die »Kelter«, das »Rössle« und das »Faß« in Frage. In allen diesen Wirtschaften hatte ich ihn schon im Auftrag meiner Mutter zu suchen, und zum Teil lagen sie weit auseinander, und es kam dann eine ganz schöne Strecke Weges zusammen.
Und bestimmt haute er jetzt dort auf den Tisch und brüllte, daß er sich das nicht mehr gefallen lasse oder so ähnlich. Vorher brauchte er aber noch einige Bier; von Most wollte er in der Wirtschaft nichts wissen.
Im Moment wußte ich wirklich nicht, was weiter mit mir anfangen, und es wäre mir schon recht gewesen, wenn mich jemand beschäftigt hätte. Aber meiner Mutter fiel nichts anderes ein wie zu sagen: Geh jetzt rauf. Wir vespern gleich. Ich muß vorher aber noch in den Stall. Ich schrei dir dann.
Ja, sagte ich, machte auf dem Absatz kehrt und verzog mich in meinen Verschlag auf der Bühne.
Karl der Funkenschläger oder Wilhelm der Dofe
Ich hatte natürlich auch Stiefel, schwere Apparate mit dikken Sohlen, und die Sohlen voller Nägel; die Sohlenspitzen und die Absätze waren zusätzlich noch mit Eisenblättchen gesichert. Damit ließ sich schön über das Straßenpflaster schlagen, daß die Funken nur so stoben. Oft ging ich kurz vor Einbruch der Dunkelheit nur deshalb nochmal aus dem Haus, um die Funken sehen zu können. Und weil ich das so oft und so gerne tat, hieß man mich im Flecken schon lange »Karl den Funkenschläger«.
Das machte mir aber nichts aus. Der Name war immer noch besser wie Roßboll (so hieß ich auch eine Zeitlang, weil ich im Flecken alle Roßbollen und Kuhfladen mit einem Leiterwägele einsammelte und den Leuten dann für ihre Gärten oder Komposthaufen verkaufte) oder Käsreiter, wie die Kinder auch einen nannten – oder wie »Wilhelm der Dofe«. So sagten sie zu meinem Vater. Das hängt mit seiner Partei oder der SA zusammen.
Die müssen mal zusammen eine Wanderung in die umliegenden Wälder gemacht haben – eine Nachtübung, wie das hieß –, und mein Vater muß der Anführer der Gruppe gewesen sein. Es gab dann noch weitere Gruppen, und sie alle sollten sich an einem bestimmten Punkt in der Landschaft treffen.
Aber mein Vater muß da mit seinen Männern nicht hingefunden haben; muß einen anderen als den vereinbarten Ort erreicht haben, weshalb dann danach der Spottvers »Wilhelm der Dofe, der (statt nach XY) nach Seeberg gelofe« aufkam. Es ging mich nicht direkt etwas an; aber ich meine, mein Vater hätte da schon hinfinden müssen. Da kannte ich mich ja besser in der Gegend aus als er!
Feind hört mit
Droben am »Waldhorn« an der Hausmauer zur Straße war so eine Gestalt auf einem Plakat: ein Schatten mit hängender Schulter. Darauf stand: »Feind hört mit!« Oder wars der »Kohlenklau?« Der sah so ähnlich aus.
Weil ich die Sache nicht verstand, habe ich meine Mutter gefragt: Du, wer ist eigentlich unser »Feind«? Und dann habe ich alle Leute auf der Straße gefragt: He, wer ist eigentlich unser Feind? Ich hab doch gar keinen Feind. Aber ihr. Wer ist das? Wie heißt der? Wo wohnt der?
Den Ortsgruppenleiter habe ich nicht gefragt, der hat aber erfahren, daß ich den Leuten auf der Straße solche Fragen stelle, und kam eines Tages zu uns ins Haus und fragte meine Mutter: Maria, dein Karl fragt da so Sachen auf der Straße rum – woher hat er das?
Von mir nicht, antwortete meine Mutter. Und: Fritz, du weißt, mein Karl ist verrückt, deswegen geht er auch noch nicht in die Schule, und in diesem Zustand fragt man vielleicht so etwas. Ich habe es ihm längst verboten, aber er folgt scheints nicht.
Na, sagte der Ortsgruppenleiter; ich habs nur gesagt, ich will auch gar nichts gehört haben, fügte er hinzu und dampfte ab. Er war ohne Uniform gekommen, denn er war in der Hauptsache Bauer, und jetzt auf dem Weg ins Feld, da wollte er das auch geschwind erledigen.
Der Fall »Karl Simpel«
An dieser Stelle gibt es wieder einen Einschub oder Einschaltung des Schriftsteller-Kommissars Rudolf Maier in den ohnehin recht locker gestalteten Aufzeichnungen zum »Fall Simpel«. Maier berichtet immer wieder – wenigstens hat es den Anschein – über den Verlauf des Verhörs im Stuttgarter Polizeigefängnis 1948. Er scheint nicht gerade begeistert zu sein von dieser Geschichte, und am liebsten hätte er den Fall wieder abgegeben. Aber er mußte ihn zu Ende fuhren, so lautete der Bescheid von oben.
Die Unzurechnungsfähigkeit des Buben war ja festgestellt. Trotzdem wollte man seine Aussagen haben, bevor er in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen wurde. Also doch Zwiefalten, da hatte seine Mutter recht gehabt. Oder Winnenden.
Der Erzählerstandpunkt wechselte: so berichtete er einmal in der Ich-Form und dann wieder in der dritten Person »Er«. Wenn er den Fall am liebsten wieder abgegeben hätte, dann aus zweierlei Gründen: einmal tat ihm der Karl leid, zum anderen hielt er die Verhöre für unnötig. Sie brachten im Grunde niemand etwas. Höchstens ihm privat für seine Schriftstellerei. Aber nicht irgendeiner Behörde. Die beiden Nazis waren tot, und vielleicht hatten sie es verdient. Und wenn sie es verdient hatten und blutige Hände hatten, dann mußten sie ihre Strafe bekommen: von den Gerichten, von der Gesellschaft, jedenfalls von normalen Leuten und von keinem Dackel.
Doch wenn von denen zu dieser Abrechnung keiner nach dem Zusammenbruch und später in der Lage war, dann mußte halt so ein Dackel kommen, von dem man bis jetzt immer noch nicht wußte, ob er wußte, was er tat!
»Kommen wir jetzt endlich zur Sache, Simpel!« schrie Maier. Er wollte noch mehr aufbrausen, da fing er einen Blick seiner Sekretärin an der Schreibmaschine auf, und riß sich zusammen.
»Zur Sache, sagte ich!«
»Zu was für einer Sache, Herr Kommissar?« Manchmal wußte man bei Simpel wirklich nicht, wo man dran war – war es wirklich ein Dackel oder tat er nur so? Jetzt zum Beispiel dieses Grinsen . . . das zerrte doch ganz schön an den Nerven. »Wie moinet Sie des?« Das war eine Lieblingsfrage des Buben. »I moin des so«, begann Herr Maier ganz ruhig und von vorne: »Warum hast du damals die beiden Männer erschossen? Einfach kaltblütig abgeknallt, ha? Du drückst dich dauernd herum, wie die Katze um den heißen Brei.«
»Katze?« fragte Simpel. »Und um den heißen Brei? Aber das muß man doch, den Brei etwas stehenlassen, wenn er heiß ist, sonst verbrennt man sich die Labbel. Ich hab mir schon paarmal die Labbel verbrannt, als Kind, seitdem lasse ich den Brei stehen, bis er kalt ist. Ich weiß, von was ich schwätz; ich eß gern Brei, es ist mein Lieblingsessen. Schade, daß es hier so wenig Brei gibt . . .«
»Wenn du mir sagst . . . Ach, was! Du kriegst Brei, wenn du willst. Der hat aber gar nicht viel Kalorien, und die brauchst du jetzt!«
»Sie sind so gut zu mir, Herr Maier, wie mein Vater, wenn er gut zu mir hätte sein