In geografischer Hinsicht war das bedeutendste Ergebnis der Regelung von 1477 die dauerhafte Trennung des Herzogtums Burgund vom Rest des »Burgundischen Erbes«. Das Herzogtum kehrte zurück in das Königreich Frankreich, in dem es als »Bourgogne« eine der Provinzen des Ancien regimes wurde. Die restlichen Gebiete fielen an die Habsburger, die für zusätzliche Verwirrung sorgten, indem sie den Titel »Herzog von Burgund« annahmen, ohne das Herzogtum zu besitzen. Der Titel des Herzogs von Burgund, den alle habsburgischen Kaiser von 1477 bis 1795 führten, bezog sich daher auf ein ganz anderes Gebiet als jenes, das einst dem Titel »König von Burgund« zugrunde gelegen war und den die früheren Kaiser verwendet hatten.
Die Freigrafschaft entwickelte sich in eine andere Richtung. Im Jahr 1477 wurde sie von Frankreich annektiert, aber 16 Jahre später kam sie durch den Vertrag von Senlis wieder zum Heiligen Römischen Reich und wurde von den Habsburgern als „heimgefallenes Lehen“ [A. d. Red.] dem »Burgundischen Erbe« hinzugefügt. Ihr Status wurde 1512 bekräftigt, zu einer Zeit, als der Titularherzog Karl II., (der noch nicht Kaiser Karl V. war) die Schaffung einer neuen Verwaltungseinheit, des Burgundischen Reichskreises, erwog.116 Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert gab es im Heiligen Römischen Reich zehn derartige Reichskreise. Der Burgundische Reichskreis, der formell 1548 gebildet wurde, ist das Reich Nr. IX auf der Liste von Bryce.
Doch der Frieden von Senlis hatte keinen Bestand, und so wurde ein dauerhafter Kriegszustand zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich zu einem bestimmenden Merkmal der modernen europäischen Geschichte. Im Zuge dieser Entwicklung wurde das Territorium des Burgundischen Reichskreises allmählich immer weiter verkleinert, wie es auch mit dem Königreich Burgund geschehen war. Im Jahr 1512 umfasste der Reichskreis 20 Landesherrschaften. Im Lauf der Jahre schrumpfte er immer mehr. Im Jahr 1555 wurde ein großer Teil der Burgundischen Niederlande in die Hoheit des Königreichs Spanien übertragen, doch 25 Jahre später löste sich die Hälfte dieser Provinzen aus der spanischen Herrschaft und gründete die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen (Vereinigte Niederlande). Als die verbliebenen Territorien schließlich 1715 von Spanien an Österreich zurückgeben wurden, bildeten nur noch acht der ursprünglich 20 Provinzen die »Österreichischen Niederlande«.117 (Das Herzogtum Lothringen dagegen, wo Karl der Kühne gestorben war, wurde nicht in den Reichskreis eingegliedert. Es blieb nominell unabhängig, und sein letzter Herrscher, le bon roi Stanislas (reg. 1735–1766), war ein arbeitsloser polnischer Monarch, dessen Tochter zufällig Königin von Frankreich war.118)
Auch die Entwicklung der Freigrafschaft, der »Franche-Comté«, verlief außergewöhnlich. Der Großteil der Region gelangte 1553 zusammen mit dem Rest des Reichskreises unter spanische Herrschaft. Doch die Hauptstadt dieses Gebietes, Besanz (Besançon), blieb bis 1651 eine Reichsstadt innerhalb des Heiligen Römischen Reiches. Dann war es eine Generation lang die Hauptstadt des »El Contado Franco«, bis es 1678 durch den Vertrag von Nijmegen zusammen mit dem übrigen Territorium an Frankreich abgetreten wurde, wodurch die letzte Verbindung des Heiligen Römischen Reiches mit seinem früheren Königreich Burgund beseitigt wurde.119
Die Provinzen Bourgogne und Franche-Comté waren von der Regierungszeit Ludwigs XIV. bis zur Französischen Revolution Bestandteile des Königreichs Frankreich. Die Einwohner der Bourgogne, die von Dijon aus verwaltet wurde, hießen offiziell Bourguignons und Bourguignonnes; die Bewohner der Franche-Comté, deren Verwaltungszentrum Besançon war, nannte man Comtois und Comtoises. Im Jahr 1791 wurden beide Provinzen aufgelöst und durch republikanische Departements mit Namen ohne historische Bezüge ersetzt. Alles was mit dem Ancien régime zusammenhing, wurde verachtet und streng gemieden. Die Franzosen sollten sich nicht mehr als Bewohner einer bestimmten Provinz verstehen und das Königreich Frankreich vergessen, insbesondere die vielen burgundischen Reiche.120
Der moderne französische Staat ist bekannt für seine zentralisierte Verwaltungsstruktur. Im Laufe der beiden letzten Jahrhunderte hat sich jedoch vieles verändert. Die revolutionäre Republik wurde vom Kaiserreich abgelöst; darauf folgten ein restauriertes Königtum, eine zweite Republik, ein zweites Kaiserreich und dann eine dritte, vierte und fünfte Republik. Eines hat sich in dieser Zeit aber nicht geändert: Paris gab die Richtung vor, der Rest von Frankreich folgte.
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde diese Praxis etwas modifiziert. Im Jahr 1956 wurde zur Verbesserung der staatlichen Planungsmöglichkeiten ein gewisses Maß an Dezentralisierung eingeführt, und 1982 wurden Regionalräte geschaffen. Seither ist Frankreich in 22 Regionen gegliedert, die in Größe und Form weitgehend den 34 vorrevolutionären Provinzen entsprechen. Eine dieser Regionen heißt Bourgogne, ihr unmittelbarer Nachbar Franche-Comté.121 Doch die französischen Regionen besitzen keine vergleichbaren Kompetenzen wie die Landesteile des Vereinigten Königreiches nach der Umsetzung der Devolutionspolitik oder die schweizerischen Kantone. Die Macht der französischen Zentralregierung wurde nicht eingeschränkt, sondern nur ein wenig beschnitten; Bezüge auf historische Formationen spielen kaum eine Rolle. Die Bürokraten und Politiker der Nachkriegszeit, welche die Regionen schufen, dachten anscheinend nur bis zum Ancien régime. Sie ignorierten die burgundischen Hintergründe von Franche-Comté und wiesen den Namen Burgund ausschließlich dem früheren Herzogtum zu. Dabei wird übersehen, dass die Region, die heute »Rhône-Alpes« heißt, ebenso stark burgundisch geprägt ist wie die übrigen.122
Dennoch ist die historische Erinnerung noch bemerkenswert lebendig. Sie mag ungenau, verworren oder verzerrt sein, aber sie ist nicht völlig verschwunden. Zwischen der Auflösung des merowingischen Burgund und der Gründung des karolingischen Herzogtums vergingen 111 Jahre; zwischen der Abschaffung der königlichen französischen Provinz »Bourgogne« und ihrem Wiederaufleben als Region verstrichen 162 Jahre. Diese Zeitspannen sind nicht lange genug, dass das kollektive Bewusstsein alles vergisst. Heute scheint es, als habe die Erinnerung an das Burgund des 15. Jahrhunderts jene an die anderen Epochen verdrängt, wahrscheinlich wegen der künstlerischen Pracht dieser Zeit. Doch man sollte niemals »nie« sagen. Vielleicht kommt noch der Tag, an dem die Bürger von Genf, Basel, Grenoble, Arles, Lyon, Dijon und Besançon ihre Banner entrollen und ihre Hymne singen werden: »Burgund ist nicht vergangen, so lange wir leben!« Und dann laden sie vielleicht einen Vertreter oder eine Delegation aus Bornholm zu ihren Feierlichkeiten ein.
Die »Anmerkung A« von Bryce über die burgundischen Reiche umfasste zehn Punkte und er erwähnte einen möglichen elften. Bryce beschäftigte sich nicht mit den Provinzen des Ancien régime und konnte aus offensichtlichen Gründen auch die heutigen Regionen nicht aufnehmen. Dennoch ist seine Aufzählung von zehn oder elf »burgundischen Reichen« eindeutig zu kurz. Je nach Definition gab es fünf, sechs oder sieben Königreiche, zwei Herzogtümer, eine oder zwei Provinzen, eine Frei- oder Pfalzgrafschaft, eine Landgrafschaft, ein Gebilde, das man als »Vereinte Staaten« bezeichnen könnte, einen Reichskreis und zumindest eine Verwaltungsregion. Damit umfasst die Liste mindestens 13 und maximal 16 Staaten. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, kann man durchaus davon sprechen, dass es in der Geschichte insgesamt 15 burgundische Reiche gegeben hat. Das erinnert an den lateinischen Wahlspruch von Philipp dem Guten Non Aliud (»Nichts anderes«) – den man frei vielleicht auch mit »Genug, aber nicht zu viel« übersetzen könnte.123
Es erscheint daher angebracht, die Auflistung von Bryce in überarbeiteter Form noch einmal aufzugreifen:
1. 410–436 | Das erste burgundische Königreich von Gundahar (Bryce Nr. I) |
2. 451–534 | Das zweite burgundische Königreich, gegründet von Gundioch |
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