Helden und andere Probleme. Jan Philipp Reemtsma. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jan Philipp Reemtsma
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783835345652
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function you’re so full of fear

      A working class hero is something to be.

      Was ist das? Der Held der Arbeiterklasse als Ausweg aus einer demütigenden Kleinbürgerkarriere? Redet so ein Held der Arbeiterklasse, vielleicht im Rückblick? Redet so ein Held? Nein, so reden Helden nicht, die einen nicht wie die andern. So reden die, die Helden sein wollen und denen die Phantasie so weit durchgeht, daß sie meinen, sie wären wirklich welche. John Lennon war ein wunderbarer Musiker (einer der besten Rock’n’Roll-Sänger, die es gegeben hat, hören Sie sich noch einmal »Twist and Shout« an), der allerlei erfreuliche und unerfreuliche Streiche in der Öffentlichkeit gespielt hat, aber »a working class hero«? Wollte er selbst das auch sein? »Just follow me« – man stelle sich das eingangs beschriebene Bild vor Augen: gereckter Arm, geballte Faust, Ballonmütze – ein Working-class-hero-look-alike. Kein Achill, nicht einmal ein Patroklos. Aber ein zeit seines Lebens narzißtisch Übersteuerter, bis hin zu seiner Selbstabschließung im New Yorker »Dakota«, gewiß in der Meinung, die Welt drehe sich ohne ihn wenigstens anders – »singe, Göttin, den Zorn …« –, einer Selbstabschließung, aus der er (wie Montaigne aus seiner Exklusion mit den Essais, in denen er »Ich« sagte wie keiner vor ihm) mit einigen betörend schönen Liedern, besser aussehend denn je, wieder auftauchte und in seinem letzten Interview seinen früheren Allüren den Laufpaß gab – und dann wurde er erschossen, und der gewaltsame Tod der großen Narzißten verklärt sie immer, er mag so banal sein wie der Autounfall von Albert Camus.

      Doch einen Augenblick noch. Der Song vom »Working Class Hero« ist doch eigentlich eine deprimierte Selbstauskunft. Von der Pose mit Ballonmütze und geballter Faust bleibt nur das Eingeständnis, woher es kommt. Das Geständnis, daß auf der Couch des Analytikers gemacht werden könnte, Lennon aber der ganzen Welt macht, das Geständnis, daß da einer so klein gemacht worden ist, daß er sich selbst verloren hätte, hätte ihn nicht eine Phantasie aufgefangen. Er habe sich immer gewundert, hat er später erzählt, daß niemand bemerkt habe, daß er ein Genie sei. Lennon hat übrigens Auskunft gegeben, wie das alles anfing. Seine Mutter hatte ihn früh bei seiner Tante in Pflege gegeben, von deren Haus er auf das Waisenhaus, das den Namen »Strawberry Fields« trug, blickte, und als sich die Mutter wieder um den Halbwüchsigen kümmern wollte, wurde sie von einem betrunkenen Polizisten totgefahren. Das Lied »Mother« mit seiner Refrain »Mother don’t go / Daddy come home!«, gesteigert bis zu einem heiseren Schrei, gibt deutlicher Auskunft über frühen und schrecklichen Objektverlust (wie man so sagt) als viele Texte anderer Leute, die auch von so etwas handeln.

      »Mother don’t go / Daddy come home!« – der Stoff, aus dem die Helden sind? Der Stoff, mit dem unsere Helden-Phantasien befeuert werden? Manche Helden gewiß, manche Phantasien auch. Bei manchen wird die Unmöglichkeit, die Leere zu füllen, das Scheitern der Kompensation zu mörderischer Wut. Das sind vielleicht die, von denen die großen Geschichten erzählen. Das muß aber so nicht sein. Entscheidend ist, was die Helden – mit solchem Hintergrund oder ohne ihn – aus sich machen. Und was sie uns bedeuten, hängt an unseren narzißtischen Bedürfnissen – und unseren zivilisatorischen Präferenzen.

      Dietrichs mißlungene Brautwerbung

      Über Heldengeschichten

      »Dietrichs mißlungene Brautwerbung« hieß eine Zwischenüberschrift der Nacherzählung der Sagen um Dietrich von Bern in Gerhard Aicks Deutschen Heldensagen. Ich mochte die Passage nicht. Einmal gehörte eine solche Brautwerbung – sie findet durch einen Abgesandten statt, einen »Rosenkavalier« sozusagen – nicht in eine »Heldensage«, wie mir damals schien, und zweitens schon gar nicht als mißlungene. Aber ignorieren konnte ich sie nicht – sie brachte in den melancholisch-endzeitlichen Ton, der die Dietrich-Sage ausmacht und ihre literarische Qualität begründet, einen privaten, gleichsam bürgerlich-traurigen Zug hinein, der – das weiß ich nun – unerläßlich dazugehört. »Dietrichs mißlungene Brautwerbung« – ich habe diesen Zwischentitel nie vergessen, sprechen wir über ihn, wenn wir von »Helden« sprechen.

      Worum ging’s dabei? Dietrich von Bern, der, wie die Sage immer wieder sagt, größte der Helden seiner Zeit, ein Mann, der eine seltsam intermittierende Heldenbiographie hat, beschließt irgendwann zu heiraten, sucht – das heißt, läßt suchen – nach einer passenden Frau, und ihm wird »Hilde von Bertangaland« – ich folge hier der Fassung von Therese Dahn – genannt, die Tochter von König Artus. Er schickt einen Werber, Herburt, der an den Artushof reist, sich in Hilde verliebt, seinem Auftrag aber treu bleibt und diesen ihr vorträgt. Sie will wissen, wer und wie Dietrich denn sei, und ich zitiere:

      »Was für ein Mann ist Dietrich?«

      »Er ist der größte Held der Welt und der mildeste[1] Mann.«

      »Vermagst du wohl, Herburt, mir an die Steinwand hier sein Antlitz zu zeichnen?«

      »Das kann ich leicht: und jeder, der Dietrich einmal sah, würde ihn an diesem Bild erkennen.« Und er zeichnete ein Antlitz an die Wand, groß und schrecklich.

      »Sieh, hier ist’s, Jungfrau: und so ein Gott mir helfe, – König Dietrichs Antlitz ist noch schrecklicher.«

      Hilde erschrak und rief: »Niemals möge mich dies elbische Ungeheuer erhalten!«[2]

      Sie fragt, warum er nicht für sich selbst werbe, und da er seinen Auftrag erledigt hat, kann er es tun und tut es erfolgreich.

      Das Bewegende an der Geschichte ist – und man muß aus dem ersten Lesealter heraus sein, um sich bewegen zu lassen –, daß Dietrich selbst durch die Werbung aus seiner Sphäre hinauswill und nur ein König sein will unter anderen. Am Ende sind alle um ihn herum, alle, die nicht unbedingt ihm gleich, aber doch aus seiner Sphäre waren, Hildebrand, Wittich, Heime, tot. Er sitzt allein im Schloßhof wie ein Rentner auf der Parkbank. Da wird er auf einem überirdischen Pferd entrückt, und seitdem führt er das »wilde Heer« an, einen fürchterlichen Gespensterzug, vor dem sich die Leute in ihre Häuser flüchten. Ja, ein Ende für den fürchterlichen Helden, der zuvor hatte ein Ehemann werden wollen, aber es hatte nicht sollen sein.

      Was ist die Sphäre der Helden?

      *

      Als er den »Produktionsprozeß des Kapitals« beschrieben / analysiert hatte, stand Marx vor der Frage, wie es denn zum Kapital bzw. dem Kapitalismus gekommen sei. »Kapital« war in seiner Analyse immer das, was vorausgesetzt werden mußte, damit Kapital produziert werde, die Entwicklung des Kapitalismus setzt den Kapitalismus voraus: »Man hat gesehn, wie sich Geld in Kapital verwandelt, durch Kapital Mehrwert und aus Mehrwert mehr Kapital gemacht wird. Indes setzt die Akkumulation des Kapitals den Mehrwert, der Mehrwert die kapitalistische Produktion, dieser aber das Vorhandensein größerer Massen von Kapital und Arbeitskraft in den Händen von Warenproduzenten voraus. Diese ganze Bewegung scheint sich also in einem fehlerhaften Kreislauf herumzudrehn, aus dem wir nur hinauskommen, indem wir eine der kapitalistischen Akkumulation vorausgehende, ›ursprüngliche‹ Akkumulation (›previous accumulation‹ bei Adam Smith) unterstellen, eine Akkumulation, welche nicht das Resultat der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern ihr Ausgangspunkt.«[3]

      Was war, bevor das war, was wir kennen und gewohnt sind? Das ist nicht nur eine historische Frage, sondern oft eine systematische, haben sich doch unseren Techniken des Verstehens an dem geschult, was wir um uns herum vorfinden. Über das, was »vorher« gewesen, erzählen wir farbige Geschichten. Marx erzählt eine Geschichte von Raub und Zwang, von Betrug und Trick, von Krieg und Hasard – nein, nicht eine Geschichte, viele Geschichten, die Szenarien entwerfen, wie es zum Aufhäufen riesiger Vermögen gekommen ist, die schließlich irgendwie nicht anders weiter gemehrt werden konnten als durch Ausbeutung von zuhandener Arbeitskraft, die ihrerseits eben einfach irgendwann »da« gewesen ist, nachdem die Subsistenzmittel ihrer Eigentümer ruiniert worden waren. Marx erzählt uns in diesem 24. Kapitel seines Kapital eine große Oper von Untergang und Aufstieg, von ubiquitärem Verbrechen, gesetzfreiem Rauben, von Herumgetriebensein und Sklaverei und Mord, bis alles zueinander findet und die Schätze zu Kapital, die Sklaven und Herumstreunenden zu Lohnarbeitern werden.

      Es