In Mittelweg 36, der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, hat Christian Schneider einen anderen Helden des Humanum vorgestellt: Ödipus.[5] Man staunt. Man könnte meinen, so weit müßten Freudianer (der Verfasser ist Mitarbeiter im Frankfurter Sigmund-Freud-Institut) nicht gehen, daß sie Ödipus gleich zum Helden erklären, denn was hat er getan?: einen Fremden in einer Wegenge erschlagen, nicht wissend, daß es sein Vater war, die Sphinx in einem Rätselwettbewerb geschlagen, sich aus Dankbarkeit von der verwitweten Königin heiraten lassen, nicht wissend, daß es seine Mutter war, sich selbst des Vatermords und des Inzests überführt – am Ende schließlich die Selbstverstümmelung.
Daß Ödipus kein »klassischer Heros« ist, gibt Schneider sehr wohl zu, dennoch sei er andererseits »der Held par excellence«.[6] Er sei insofern ein »Held par excellence«, als er, wie Herakles – Held in seinen Taten und Heros als Halbgott –, den Fortschritt des Gemeinwesens durch seine Tat verbürge; im Falle des Ödipus allerdings bestehe dieser Fortschritt in einer Erkenntnisleistung, die zwar nicht die eigene ist, die aber in der späteren theoretischen Verarbeitung der literarischen Figur deutlich werde. Aber schon der primäre Ödipus des Aischylos sei durch sein Agieren gewissermaßen über den klassischen Helden hinaus. Er sei der erste Held, der seine Tat resp. Untat ex post factum bedenke: »Wann etwa haben die Homerischen Helden Gefühle? Wenn ihnen ein Kamerad stirbt oder wenn ihnen ein Unrecht geschieht: eine Trophäe nicht gewährt, ihnen Anerkennung versagt wird. Ihre kriegerischen Bluttaten reflektieren sie nie. Auch der erste Held, der nach dem Krieg Leiden und Irrungen anderer Art zu bestehen hat, Odysseus, mag sein Schicksal bedenken, nicht aber seine Taten. Der Erste, der in seiner Tat eine Untat erkennt, ist Ödipus.«[7] – Das ist wohl wahr, aber macht ihn das zum Helden?
Schneider möchte »nach Universalien des Helden fahnden, die ihm über Zeiten und Systeme hinweg so etwas wie Identität verleihen«.[8] Diese Identität besteht allerdings kaum in der Fähigkeit zur Reflexion, und Schneider landet auch gleich dort, wo wir uns nicht mehr wundern, bei der Gewalttätigkeit, die dem Helden nicht nur erlaubt, sondern von ihm gewissermaßen gefordert ist: »die archaischste Schicht des Helden ist, dass er die grundlegende Zivilisationsbedingung, das Tötungsverbot, außer Kraft setzt.«[9] Das allerdings ist übers Ziel hinaus geschossen: Das Tötungsverbot ist keine grundlegende Zivilisationsbedingung. Wenn wir über Zivilisation in Hinsicht auf Gewalt sprechen, sprechen wir über unterschiedliche Erscheinungsformen von Gewaltverboten, Gewaltgeboten und Erlaubnissen, gewalttätig zu sein. Wenn Achill Hektor tötet, wird er dafür mit ehrfürchtiger Scheu bewundert. Er verstößt damit gegen kein Verbot, hebt nicht eigenmächtig und für sich ein Zivilisationsgebot auf – nur die Schändung der Leiche des Hektor verletzt den Komment des Gentleman-Warriors.
Ebenfalls ist fraglich, ob es die durch die Tat des Helden angestoßene Kausalität ist, »die die Realität folgenreich umgestaltet«.[10] Das wäre dann ja nicht Ödipus’ Mord, sondern seine Reflexion der Tat, die aber (jedenfalls bei Aischylos) gar nicht stattfindet. Gewiß haben die Taten eines Helden Folgen, aber die machen die Heldentat nicht aus. Theseus befreit die Welt vom Minotauros. Das hat Folgen: Athen muß den Tribut der Jungfrauen, die zu ihm ins Labyrinth geführt werden, nicht mehr entrichten. Aber diese erfreuliche Folge macht die Heldentat nicht aus. Tells Schüsse auf den Apfel wie auf Geßler befreien die Schweiz, sagen wir: irgendwie.[11] Ein »Held« ist er, wenn wir ihn so nennen wollen, weil er – wie nennt man das?: – »das Heft des Handelns in die eigene Hand nimmt«.
Übrigens ist Tells Schuß auf Geßler – er erfolgt schließlich aus dem Hinterhalt – als Heldentat oft bestritten worden. Das kann man so sehen, aber kaum Schiller ankreiden, wie Börne und Mehring das tun. Sie wollten einen Revolutionär auf dem Theater, wo Schiller alles andere als einen Revolutionär darstellen wollte. Schillers Tell ist kein Revolutionär, er ist ein Desperado, er handelt aus selbstgesetztem Recht. Wir kennen diese Leute, Django gehört dazu, Silence (aus Il grande silenzio), der Mann mit der Mundharmonika, Leute, die nicht mit Blick auf das Wohl und Wehe einer Gemeinschaft handeln, sondern wegen einer Mehr-oder-weniger-Privatangelegenheit, einer Rache, eines Traumas oder – im Falle des ersten Italowesterns mit Clint Eastwood – wegen »a fistful of dollars«. Diese Leute handeln aus eigenem Auftrag, sie handeln, weil es ihnen so gefällt – gleichwohl verändert ihr Handeln etwas. Durch Tell kann die Befreiung der Schweiz ohne (weiteres) Blutvergießen vollzogen werden, Django säubert in seinem egozentrischen Rachefeldzug die Stadt von einer Bande texanischer Rassisten (aber er verursacht auch direkt und indirekt den Tod Unschuldiger), der von Clint Eastwood verkörperte Desperado liquidiert zwei rivalisierende Banden, und er befreit Marianne Koch – (schöner war sie nie!) – und läßt sie, obwohl er sie liebt, mit Kind und ihrem Mann, der zu schwach war, sie selbst zu befreien, gehen. – Wir können sie Helden nennen, aber wir tun das nicht wegen der von ihnen angestoßenen Kausalität, sondern weil wir sie bewundern, weil wir auch gerne wären wie sie. Das heißt nicht, daß wir uns danach verzehren, Helden zu sein, aber doch, daß irgendwas an ihnen, von dem wir auch glauben, es sei etwas in ihnen, in uns eine Saite zum Klingen bringt. Welche Saite? Jedenfalls: Wenn diese Saite nicht klingt oder zum Verstummen gebracht wird, verschwindet auch der Status des Helden. Man denke an die Darstellung des Achill in Shakespeares Troilus und Cressida, man denke an Schmidts »Alabama-Dillert«.
Wenn wir uns darüber verständigen, was ein Held ist – ob primär gewalttätig oder nicht, ob jemand, der etwas »für uns« tut oder nur für sich –, müssen wir die Ansicht teilen, daß es etwas Großartiges ist, was er tut. Und damit verständigen wir uns wechselseitig über unsere Kultur bzw. darüber, in was für einer Kultur wir leben wollen. Christian Schneider hat recht, wenn er schreibt: »Was ein Held ist, wird letztlich durch das soziale Koordinatensystem bestimmt, das die Tat bewertet und auf diesem Weg Heldentum definiert. […] dieselbe Handlung, die einen hier zum Helden werden lässt, kann ihn dort, in einem anderen Koordinatensystem, zum Verbrecher oder Narren machen.«[12] Um diese abstrakte Aussage zu pointieren: Kurz nach dem 11. September konnte man im Fernsehen – man fragt sich, warum – ein Interview mit Horst Mahler und Reinhold Oberlercher sehen, in dem sie die Gruppe um Mohammed Atta als »Helden« bezeichneten. Wir nennen sie üble Mörder. Wir nennen Leute, die unter Einsatz ihres Lebens Geiseln befreien, Helden, die Geiselnehmer nennen sie üble Mörder. Das klingt nach dem bekannten »Für die einen sind es Terroristen, für die anderen sind es Freiheitskämpfer«. Das ist, anders, als man meint, nicht der schiere Relativismus. »Relativismus« bedeutet ja nicht, die Kontingenz der eigenen Ansichten zu erkennen, sondern bei dieser Einsicht stehenzubleiben. Ich zitiere da gerne Lessings Saladin, der, als er auf seine Frage, welche Religion Nathan am meisten eingeleuchtet habe, zur Antwort erhält: »Sultan, ich bin ein Jud’«, repliziert: »Ein Mann, wie du, bleibt da nicht stehen, wo der Zufall der Geburt ihn hingeworfen; oder wenn er bleibt, bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern.«
Gilt diese Kulturabhängigkeit der Zuschreibung des Heldentums nur für gewalttätige Helden? Hier muß eins vorausgeschickt werden: Held wird man – kulturübergreifend – nur durch eine Tat, nicht durch ein Erleiden. Roland von Ronceval erliegt einer sarazenischen Übermacht, aber noch im Tode vermag er dadurch, daß er seinen quasi-letzten Atemzug für ein Hornsignal verwendet, das Heer Karls des Großen zur Rache herbeizurufen. In der deutschen Fassung des Rolandslieds, die auf eine französische