Ein Held steht nämlich nicht für das »Gute« (was immer das sein mag), sondern nur für sich und allenfalls seinen Ruhm. Als Gary Cooper die Kutsche wendet und seiner Frau nicht sagt, warum, kappt er die bürgerlichen Bande. Er kündigt die Pflichten aus dem Bund auf, den er eben geschlossen hat, und kehrt, wie sich zeigen wird, auch nicht als Pflichtbewußter zurück, sondern als einer, der nicht feige sein will. Auch er muß ja nicht. Wenn er keinen Deputy findet, ist er nicht gehalten, ein Selbstmörder zu werden, denn ultra posse nemo obligatur.
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Helden sind nicht nur auf sich selbst gestellt, sie agieren auch nicht im ideellen Dienste von irgend etwas. Auch Wilhelm Tell hat nicht die Schweiz befreit, sondern sein Händel mit Geßler ist ausschließlich privat, mag eine Eidgenossenschaft, zu der er, wie Schillers Stück herausstreicht, nicht gehört, auch von seinem Agieren profitieren.[6] Mag Schiller seinen Tell vor allem als sorgenden Hausvater präsentieren, so führt doch auch bei ihm kein Weg daran vorbei, ihn als (wenn man so will: phallischen) Narzißten zu porträtieren. Seine Armbrust trägt er so notorisch mit sich herum, daß er im Personenverzeichnis als Tell-mit-der-Armbrust figuriert. Tell tötet Geßler wie ein wildes Tier, das die Herden bedroht, aus dem Hinterhalt. Achill gehört zwar nicht zu den Zivilisationshelden, er ist ein Krieger, aber seine Heeresfolge ist auf keine soziale Verpflichtung gestellt. Er betont das selbst im Streit mit Agamemnon: Er habe keinen Streit mit den Troern, sie hätten ihm nichts getan, er wolle Agamemnon helfen, seine Ehre wiederzuerhalten. Umso ehrempfindlicher ist er, als Agamemnon Achills Ehrengabe – die schöne Briseis – beansprucht, weil er die seine zur Besänftigung Apolls zurückzugeben bereit ist. Achill ist der Krieg als solcher so gleichgültig, daß er achselzuckend in Kauf nimmt, daß sein Rückzug aus der kämpfenden Truppe das Heer in Schwierigkeiten bringt, auch Versuche, ihn der gemeinsamen Sache wieder gewogen zu machen – Rückerstattung der genommenen Beute, kompensatorische Geschenke – weist er zurück. Maß des Akzeptablen ist für ihn allein sein verletztes Ehrgefühl. Und als er in den Krieg wieder eintritt, tut er das, um den Tod seines Freundes Patroklos zu rächen und sich vor anderen auszuzeichnen. Achill, so kann man pointieren, handelt nicht in einem sozialen Raum, er schafft sich einen eigenen, gewissermaßen vorsozialen, den die anderen zu akzeptieren gezwungen sind, und aus diesem Grund kann man ihn einen Helden nennen, einen spätzeitlichen.
Dietrich von Bern ist auch ein spätzeitlicher Held. Er tut noch, was ein Held tut, beseitigt allerlei Riesen, aber sonst ist er König. Ein geachteter, aber nicht immer ein vorbildlicher. Auch hinsichtlich seines Status als unüberwindlicher Held ist er nicht ganz stabil. Den Kampf mit seinem späteren Gefolgsmann Wittich verliert er beinahe wegen dessen besserer Bewaffnung (Wittich ist der Sohn des berühmten Schmiedes Wieland), und um diese Scharte auszuwetzen, macht er sich erneut auf, um einen Outcast zu stellen, und ist wieder nur knapp erfolgreich. Es ist etwas wie eine Regression. Da dieser Waldläufer ihn, Dietrich, zum Kampfe hatte stellen wollen, hätte er sich comme il faut zur Berner Burg begeben müssen und dort dem König den Kampf antragen. So aber geht Dietrich ins Ungebahnte und behauptet sich nur mit Mühe.
Der Western hat für die Verfassung des Helden ein Redensart gewordenes Schlußbild gefunden: Er reitet – allein – in die untergehende Sonne, sprich: in den Westen, wo die Zivilisation noch nicht hinreicht. Dort, wo er heldenhaft gehandelt hat, gehört er nun nicht mehr hin. Er hat die Bedingungen geschaffen, daß dort etwas anderes gebaut werden kann, in dem er dann nicht mehr gebraucht wird und im Zweifelsfall aneckt oder die Leute erschreckt. James Fenimore Coopers »Lederstrumpf« Natty Bumppo, wiewohl kein Held im Sinne der großen Taten, aber ein Virtuose des siegreichen Agierens im Ungebahnten, landet in der Stadt der Ansiedler am Susquehanna wegen Verletzung der Schonzeitbestimmungen kurzzeitig im Gefängnis und verläßt dann die Zivilisation in Richtung Westen, wo nur Büffel sind und unbesiegte Reiterstämme (und manchmal ein Treck auf der Durchfahrt). Dort wird er sterben, ohne eine andere Spur zu hinterlassen als die Geschichten über ihn.[7]
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In Der Mann, der Liberty Valance erschoß, dem nach meiner Meinung klügsten (und schönsten) Film seines Genres, kommt ein Rechtsanwalt namens Stoddard (James Stewart) in eine Grenzstadt – eine Stadt an der Grenze zwischen dem »Draußen«, wo noch das Recht von Faust und Feuerwaffe gilt, also keines, und dem einigermaßen zivilisierten Hinterland. Der Sheriff dieser Stadt kann und will sich gegen die sporadisch einbrechende Bande des Desperados Liberty Valance nicht wehren. Der Anwalt versucht, das Gesetz gegen die Übergriffe des Straßenräubers, dessen Opfer er gleich bei seiner Ankunft geworden ist, in Stellung zu bringen, aber mehr als Rhetorik kann es nicht sein, und die Zeitungsredaktion wird prompt verwüstet, das Schild seiner Ein-Mann-Kanzlei bald abgerissen, und so beginnt er irgendwann, sich das Revolverschießen beizubringen, das heißt, sich darauf vorzubereiten, das »Gesetz in eigene Hand zu nehmen«, wie man sagt, also außerhalb des Gesetzes zu handeln bzw. sich auf den Zustand vor der Einführung des Gewaltmonopols einzulassen. Die Gegenfigur des Anwalts ist der außerhalb der Stadt lebende eigentliche Held Tom Doniphon (John Wayne (nicht im Sinne der ersten dramatis persona, das ist James Stewart)), der dem Anwalt klarmacht, daß die Welt, die er vorfindet, noch nicht die ist, in der es Anwälte braucht, und der ihm auch klarmacht, daß er nicht der sein wird, der Liberty Valance erschießen kann. Es kommt (ich kürze das alles sehr ab, ich bitte um Verzeihung) dennoch zum Showdown – Valance wird erschossen, Stoddard hat geschossen. Damit beginnt die öffentliche Karriere des Anwalts als »der Mann, der Liberty Valance erschoß«, die ihn bis in den Washingtoner Senat führt. Die Geschichte wird als Rückblende und Erzählung Stoddards an Tom Doniphons Sarg erzählt. Er will ihm mit seiner Frau, die damals das Leben mit ihm dem mit Doniphon, dem sie eigentlich versprochen schien, vorgezogen hatte, das letzte Geleit geben. Stoddard berichtet seinen Zuhörern, darunter einem Journalisten, der die Geschichte von der Heimkehr des Senators an den Schauplatz seiner Ruhmestat schreiben will, daß ihm Doniphon einst die wahre Geschichte erzählt habe: Er habe in dem Augenblick, als Stoddard abdrückte, Valance aus dem Dunkeln erschossen. Der Anwalt habe keine Chance gehabt, ein Duell wäre Mord gewesen, und so habe er eben den Desperado erschossen – auch das war Mord.
Der Journalist will die eigentliche Geschichte nicht schreiben und der Öffentlichkeit mitteilen, der Westen brauche diese Heldengeschichten für seine Identität, Stoddard sorgt dafür, daß Doniphon mit seinen Stiefeln begraben wird, und fährt zurück nach Washington – in den Osten, in die andere Richtung. In der Bahn überlegt er mit seiner Frau, ob sie nicht Washington verlassen und in den Westen – den nunmehr zivilisierten notabene, es geht um eine Rentneridylle – zurückkehren, aber der Billetkontrolleur unterbricht die Gedanken, er will ihm die Hand drücken, ihm, dem »Mann, der Liberty Valance erschoß«. So fährt Stoddard denn zurück nach Washington – er ist übrigens nicht nur Senator, sondern war auch Botschafter in London, eine Anspielung auf Thomas Jefferson – zusammen mit seiner Frau, die der einsam gestorbene Tom Doniphon einst liebte. Helden sterben nicht verheiratet, und pensioniert werden sie auch nicht.
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Heldengeschichten sind Geschichten, in denen sich Gesellschaften ihre Vergangenheiten ausmalen. Es sind keine »Erinnerungen«, kein »kollektives Gedächtnis«, ohnehin eine verunglückte Metapher. Es sind fiktive Geschichten, in denen man sich Zeiten ausmalt, in denen es noch hoch herging. Über Theseus kann man keine Dokumentarreportage mehr verfassen, über Wyatt Earp schon. Die ist dann interessant, aber keine Heldengeschichte mehr. Die TV-Serie Deadwood