Erinnerung an meine Jahre in Berlin. Sammy Gronemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sammy Gronemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783863935214
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Betrieb in Hannover so abstach, hineinzufinden. Ich mußte es wohl oder übel fertig bekommen, denn meine Praxis begann eigentlich gleich von Anfang an, sich recht stark zu entwickeln.

      Es ist vielleicht nicht uninteressant zu beobachten, wie eigentlich eine Praxis aufsteigt. Im Anfang mögen ja persönliche Bezie­h­ungen von Nutzen sein. Aber das Interesse der Freunde lässt schnell nach und dann können eben nur Erfolge der Arbeit und die Empfehlungen der Klienten die Sache fördern, – übrigens nicht nur der Klienten. Ich habe mehrfach die Erfahrung gemacht, daß gerade Prozessgegner, die ich zur Strecke gebracht hatte, meine besten Helfer wurden. So erinnere ich mich, daß in einer Armensache, die ich unentgeltlich führen mußte, der Gegner, der unter­legen war, mir daraufhin Klienten zuschickte und selbst einer meiner besten und treuesten Kunden wurde. – Noch charakteristischer ist vielleicht ein anderer Fall aus späterer Zeit: da handelte es sich um den Leiter einer großen Kolonialgesellschaft, von dem ich als Vertreter seines Gegners eine bestimmte Erklärung provozieren wollte. Der Herr befand sich auf einer Weltreise, und nun fand er in jedem Hafen, den er berührte, ein dringendes Telegramm von mir vor, bis ihm die Geduld riß, und er schließlich telegraphisch jene erwartete Order gab. Er widerrief sie zwei Stunden später telegraphisch, aber da war es zu spät. Ich war überzeugt, daß er mein Todfeind geworden war, aber siehe, Jahre später, als er in eine große Affäre verwickelt wurde, kam er zu mir und erklärte: „Sie haben mich seinerzeit beinahe krank gemacht. Aber Sie haben mir so imponiert, daß ich meine Sache in ihre Hände lege.“ Das hat er denn auch nicht bereut. Dieser Prozess, dessen Stenogramm unter dem Titel „Ein Riesenkolonialprozess“ veröffentlicht wurde, ging glücklich aus und war einer der interessantesten Fälle meiner Praxis.

      Ich komme aber auf die Anfangszeit meiner anwaltlichen Tätigkeit zurück und will den einen oder andern charakteris­tischen Fall aus jener Zeit skizzieren. – Da war die russisch jüdische Tänzerin Maria S. Die junge Künstlerin hatte in den Varietés Rußlands sehr viel Beifall gefunden, – und nicht nur Beifall. Sie war mit Geschenken recht wertvoller Art geradezu überhäuft. Eine Dame der Aristokratie z. B. in Moskau war von ihr so begeistert, daß sie ihre Brillantohrringe abnahm und ihr hinter die Bühne sandte. Ein Verehrer ihrer Kunst schenkte ihr einen kostbaren Fächer, dessen Stäbe durch Hundertrubel-Scheine verbunden waren etc. Sie kam mit ihrer Mutter in einem Sommer in ein deutsches Bad, geriet dort irgendwie unter den Einfluss von Persönlichkeiten, die ihr Interesse nach anderer Richtung lenkten, und sie beschloss, der Bühne zu entsagen und sich der Krankenpflege zu widmen. Dabei stieß sie auf den heftigsten Widerstand der Mutter. Das war der Typus der „Theatermutter“, nur ins Jiddische übersetzt. Sie wollte durchaus nicht auf die Einnahmequelle verzichten, was um so begreiflicher war, als sie derartig geldliebend und knauserig war, daß sie beispielsweise regelmäßig, wenn sie die Straßenbahn benutzte, Versuche machte, etwas vom Preise des Billets abzuhandeln. Hatte sie schon vorher ihre Tochter in überaus strenger Zucht gehalten, so nahm das jetzt groteske Formen an, sodaß Merim sich kaum noch frei bewegen konnte. Sie fasste den Entschluss dem Gefängnis zu entfliehen, und eines schönen Morgens erschien sie in meinem Büro, in der Hand ein großes zusammengeknüpftes Tuch. Ohne etwas zu sagen, öffnete sie dieses Paket, und auf meinen Tisch ergoss sich ein Katarakt von Brillanten, Schmuckstücken aller Art etc. Ich starrte die Beschwerung entgeistert an: sie erklärte mir kurz, sie sei ihrer Mutter fort gelaufen und hätte allen ihren gehörigen Schmuck mitgenommen. Sie ginge zur Mutter nicht zurück, – ich solle mich ihrer annehmen. Ich stellte fest, daß sie auf der Bank auch noch ein Kapital, wenn ich nicht irre, von 200.000 Mark hatte und begriff, daß höchste Gefahr im Verzuge sei. Ich raste mit ihr im Auto nach Charlottenburg zu dem zuständigen Gericht. Unterwegs hatten wir eine Panne. Wir mußten zuerst zur Apotheke, wo Merim verbunden werden mußte, und so kamen wir zu spät, um die Erlassung eines Arrestes auf das Kapital zu verhindern. Nun begann ein gewaltiger Kampf vor Gericht. Die alte Frau erklärte kühn und gottesfürchtig, daß die gesamten Schmucksachen ihr gehörten und ihr verehrt seien. Außerdem beschuldigte sie mich, ihre Tochter entführt zu haben: eines Tages drang sie in Begleitung einiger Frauen in meiner Abwesenheit in meine Wohnung ein, da sie glaubte, daß ich das Mädchen bei mir versteckt hielte. Es gab einen sehr langwierigen Prozess, und das Gericht ordnete das sogenannte „vorbereitende Rechnungsverfahren“ an, d. h. ein Richter wurde damit beauftragt, die einzelnen Posten zu prüfen. Das dauerte wochenlang, und ich hatte den Nachweis über die Herkunft jedes einzelnen Schmuckstückes zu führen. Es war da eine ganz interessante Liste von Kunstenthusiasten, die zusammen kamen: fürstliche Persönlichkeiten, Männer der Hochfinanz etc. kamen in Frage. Als Zeugen aber figurierten hauptsächlich Kollegen vom Varieté. In diesen Kreisen hatte die Sache großes Aufsehen gemacht, und es drängten sich bei mir in diesen Wochen Sänger, Sängerinnen, Bauchredner, Schlangenbeschwörer, Trapezkünstler, ferner Impresarien des Varieté, die alle Merim zur Seite stehen wollten. Die Mutter aber ließ aus Ungarn ihren Bruder kommen, der das Blaue vom Himmel runter beschwor. Schließlich kam es zur Verhandlung vor einer Zivilkammer, der der feudale Landgerichtsdirektor von Keller vorsaß. Die Mutter Merims war persönlich erschienen, und der Herr von Keller beklagte sich, daß diese alte Frau ihm ständig das Haus einrenne, trotzdem er ihr ein-für allemal habe erklären lassen, daß er sie nicht empfange. Die alte Frau aber, offenbar in etwas naiven Vorstellungen über deutsches Prozesswesen befangen, begehrte vor Gericht selbst das Wort und führte, wohl zum Erstaunen auch ihres katholischen Beistandes, aus: „Ich will Ihnen erzählen, Herr Präsident, wie die ganze Sache ist. Hier der Rechtsanwalt Gronemann ist ein Zionist. Und was wollen die Zionisten? – Den russischen Kaiser umbringen und ‘nen jüdischen Kaiser machen, und dazu brauchen sie mein Geld.“ – Das Gericht war etwas verblüfft, aber auch diese Argumentation vermochte nicht, den Prozeß zu Gunsten der alten Dame zu wenden. Bevor es aber zu einem rechtskräftigen Urteil kam, gab es eine unerwartete Lösung: es tauchte ein reicher Pflanzer aus Kuba auf, der sich in Merim verliebte und sie als seine Frau in seine Heimat mitnahm. Der alten Dame wurde von der Tochter eine auskömmliche Lebensrente gewährt.

      In ziemliche Verlegenheit kam ich, als ich einen jungen jüdischen Kaufmann wegen Betruges zu verteidigen hatte. Es war eine überaus raffinierte Sache, die er angestellt hatte, und die er auch zugestand. Nun war die einzige Möglichkeit die, vor dem Gericht mildernde Umstände zu erwirken, und zwar wegen seiner offenbaren geistigen Minderwertigkeit. Wie vertrug sich das aber mit jenem Raffinement? Ich kam auf den Gedanken, ihn zu fragen, welche Zeitungen er zu lesen pflegte, und in einem dieser Blätter, dem „Pester Lloyd“, fand ich den Bericht über einen raffinierten Betrug, der genau in derselben Weise ausgeführt war, wie der jetzt zur Verhandlung stehende, nur mit dem Unterschied, daß der Täter in Budapest nicht gefaßt war, während mein Klient durch sein Ungeschick ins Unglück geraten war. Ich klärte so die Sache auf, und der junge Mann kam mit der verhältnismäßig geringen Strafe von sechs Monaten davon. Ich erinnere mich, daß die entzückende Braut des jungen Mannes, die später eine bekannte „spanische“ Tänzerin wurde, ihrem Vater, einem alten Justizrat in Berlin, das Urteil in neckischer Weise beibrachte, indem sie ihm erst erzählte, ihr Verlobter hätte drei Jahre bekommen, und dann allmählich über zwei Jahre und ein Jahr zu dem wahren Resultat kam, worüber sich der alte Herr vermutlich sehr gefreut hat.

      Nun will ich bei dieser Gelegenheit einen anderen kuriosen Fall erzählen, bei dem ich auch Dummheit als Milderungsgrund geltend machte. Der Fall ist deshalb interessant, weil hierbei in drastischer Weise das Problem in Erscheinung tritt, das so oft zu jener Frage Anlaß gibt, die immer wieder Verteidigern von Laien vorgelegt wird: Ist es für Sie nicht eine große Verlegenheit, wenn Sie einen Angeklagten verteidigen müssen, der seine Schuld leugnet, von dessen Schuld Sie selbst aber überzeugt sind? Dieser Konflikt tritt übrigens nicht so häufig auf, wie man sich im Publikum gewöhnlich vorstellt. Vor allem ist kaum ein Verbrecher so töricht, etwa, wenn er vor Gericht die Schuld bestreitet, diese seinem Verteidiger einzugestehen. In solchem Falle freilich bliebe dem gewissenhaften Anwalt nichts anderes übrig, als die Verteidigung niederzulegen. Wenn aber der Verteidiger im Gegensatz zu der Behauptung des Angeklagten doch zu der Ansicht hinneigt, daß eine Schuld vorliegt, darf er sich nicht wohl seinem eigenen Empfinden überlassen, sondern hat die Pflicht, die für den Angeklagten sprechenden Momente vorzubringen und dem Gericht die Entscheidung und die Verantwortung zu überlassen, es sei denn, daß er ganz zweifellos von der Schuld überzeugt ist. Es sind aber auch Fälle denkbar, in denen der Verteidiger trotz des Leugnens des Angeklagten es für seine Pflicht hält,