Erinnerung an meine Jahre in Berlin. Sammy Gronemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sammy Gronemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783863935214
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um ein ganz geringfügiges Vergehen, für das nach dem juristischen Tarif der Täter vielleicht mit 2 – 4 Wochen Gefängnis bestraft worden wäre. Der betreffende Angeklagte, ein russischer Jude, saß auf der Anklagebank völlig apathisch und teilnahmslos, – allem Anschein nach war er taubstumm und idiotisch. Das Gericht hatte aber einigen Verdacht, daß er simulierte und ordnete darauf eine Untersuchung durch den Gerichtspsychiater an: Der Mann wurde auf sechs Wochen zur Beobachtung in die Klinik überwiesen. Ferner beschloß das Gericht, ihm einen Verteidiger zuzuordnen; zum Verteidiger wurde ich ernannt. Ich sah den Ange­klagten zum ersten Mal bei der neuen Verhandlung und nahm ihn in eine Ecke des Gerichtssaales, während das Gericht über das Urteil in der vorhergehenden Sache beriet. – Ich sagte ihm, der mich blödsinnig angrinste, ungefähr folgendes: „Lieber Freund, ich weiß nicht, ob Sie ein Wort von dem, was ich sage, verstehen. Wenn Sie sich aber nur verstellen und so tun, als ob Sie verrückt wären, dann sind Sie’s wirklich. Sie laufen Gefahr, auf ewige Zeiten ins Irrenhaus gesperrt zu werden, während Sie, wenn Sie ihre Vorstellung aufgeben und ihre Tat eingestehen, höchstens ein paar Wochen Gefängnis bekommen und vermutlich längst frei wären, während Sie jetzt schon zwei Monate sitzen. Haben Sie mich verstanden?“ – Der Mensch zwinkerte mir verständnisvoll zu. Jetzt also im Klaren über seine Simulation, schärfte ich ihm ein, gleich zu Beginn der Verhandlung seine Komödie aufzugeben. Wie groß aber war mein Schrecken, als die Verhandlung begann, und der Angeklagte nach wie vor weiter simulierte. Da war ich nun wirklich in größter Verlegenheit. Ich wußte doch, daß er simu­lierte, durfte aber nach den strengen Vorschriften für Anwälte keineswegs diese meine Wissenschaft dem Gericht mitteilen. Weiter konnte ich aber auch nicht, ohne den Mandanten zu schädigen, in diesem Moment das Mandat niederlegen, ganz abgesehen davon, daß ich ja nicht ein gewählter, sondern ein von Amts wegen bestellter Verteidiger war. Nach dem ersten Schreck sagte ich mir aber, daß ja der Gerichtspsychiater die Wahrheit enthüllen und mich so aus der Verlegenheit befreien werde. Aber nun geschah das Erstaun­liche, daß der Psychiater in lichtvoller Weise darlegte, daß von Simulieren keine Rede sein könne, und daß die angestellten Experimente mit voller Sicherheit erwiesen hätten, daß der Angeklagte wirklich taubstumm und idiotisch sei. Nun saß ich wirklich in der Tinte. Der alte Amtsgerichtsrat aber, der die Verhandlung leitete, schmunzelte verdächtig und rief zu meiner Überraschung noch einen Zeugen, den Wachtmeister Schmidt, auf, der sich selbst gemeldet hatte. Dieser sagte kurz und bündig: „Als ich nach der letzten Verhandlung den Angeklagten ins Gefängnis zurückbrachte, drehte er sich lachend um und sagte: ‚Habe ich das nicht gut gemacht?‘“ – Das erregte stürmische Heiterkeit und eine für den Angeklagten eher sympathische Stimmung. Der Amtsanwalt beantragte zwei Wochen Gefängnis, und ich als Verteidiger sagte, die heitere Stimmung ausnutzend: „Geben Sie ihm ruhig drei Wochen, aber lassen Sie das als durch die Untersuchungshaft verbüßt ansehen!“ – So geschah es dann auch, und der arme Schlucker konnte nach Hause gehen.

      Ein zu rechter Zeit angebrachter Scherz, der die Eintönigkeit und Düsterkeit der Atmosphäre wohltuend unterbricht, kann bisweilen Wunder wirken. So handelte es sich einmal in einer erbitterten Mietsverhandlung darum, ob die betreffende Räumlichkeit eine Privatwohnung, wie der Gegner behauptete, oder ein Geschäftsraum, wie mein Klient darstellte, sei. Er behauptete, darin eine Schusterei zu betreiben, während der Gegner sagte, das sei nur eine Fiktion. Letzterer brachte einen Zeugen, der aussagte, er sei gegen Mittag in die angebliche Schusterei gekommen. Dort hätte mitten im Raum die Frau im Bett geschlafen. Das sei doch offenbar keine Werkstatt. Darauf sagte ich: „Der Zeuge hat übersehen, daß vor dem Laden ein Schild steht mit dem ausdrück­lichen Hinweis: ,Verkauf ab Lager‘.“ – Die gegenseitige Erbitterung löste sich in Heiterkeit auf, und es war jetzt nicht schwer, einen angemessenen Vergleich zu finden.

      So viel Freude mir die Tätigkeit eines Verteidigers machte, habe ich doch nach dem Eintritt von Alfred Klee in die Praxis nur noch ausnahmsweise Verteidigungen geführt, diese vielmehr ganz und gar meinem Freunde überlassen, der ausschließlich Strafpraxis machte. Denn Alfred Klee war als Vertei­diger geradezu genial. Es fehlte in Berlin nicht an tüchtigen Verteidigern, an deren Spitze damals, nachdem Fritz Friedmann schon vor Jahren infolge einer peinlichen Affäre ausgeschieden war, die Justizräte Sello und Wronker standen. Alfred Klee hatte seinerzeit seine Anwaltsstation bei Wronker absolviert und von ihm die Tradition des vornehmen alten Advokatenstils übernommen. Bei aller Energie, mit der er für seine Schutzbefohlenen eintrat, hat er nie vergessen, daß zwischen Angeklagtem und Verteidiger eine Distanz besteht. Er hat nie die Würde des Gerichtssaales verletzt und vor allem nie zu unwürdigen Werbemitteln gegriffen. Gerade dadurch unterschied er sich wohltuend von einer großen Fülle von Verteidigern in Moabit, deren Verhalten geeignet war, den Ruf des Anwaltsstandes zu schädigen. Bei vielen dieser Herren war es geradezu Übung geworden, wenn irgendein interessanter Kriminalfall Aufsehen erregte, auf irgendwelchen Wegen sich um die Verteidigung zu bewerben und geradezu das Interesse des Angeklagten zu schädigen, dadurch daß sie die Presse, auch wenn die Sache noch im vorbereitenden Stadium war, mit Notizen versorgten, während es doch meistenteils gerade im Interesse der Betroffenen war, möglichst im Dunkeln zu bleiben. Die Journalisten waren natürlich für solche Tips dankbar und wußten, sich dadurch zu revanchieren, daß sie die Namen der betreffenden Verteidiger möglichst oft in die Presse brachten und den Verhandlungen, an denen diese Herren beteiligt waren, besondere Aufmerksamkeit schenkten. In unserer Praxis, und nicht nur in der Strafpraxis, war es ganz außer Frage, sich solcher nach unserer Auffassung unwürdiger Manipulationen zu bedienen, und so gelang es uns sehr oft, Affären, die, in die Öffentlichkeit hinausgetragen, Sensationsaffären geworden wären, in aller Stille zu glücklichem Ende zu führen, so daß es überhaupt oft nicht erst zu einer Verhandlung kam.

      Die forensische Beredsamkeit von Alfred Klee war von einer ganz besonderen Art. Als zionistischer Agitationsredner war er in jüdischen Kreisen, zumal in Westeuropa, allerorten bekannt. Seine mitreißende, feurige Beredsamkeit war einfach unwiderstehlich. Selbst der Widerwilligste, sich gewaltsam Sträubende konnte sich dem Bann, der von ihm ausging, nicht entziehen. Das ging nun freilich soweit, daß diese phänomenale, fast zauberhaft zu nennende Wirkung seiner Worte gerade intellektuelle und skeptische Hörer bisweilen bedenklich stimmte. Man fragte sich, ob es nicht nur der Zauber seiner Persönlichkeit, der Klang seiner Stimme, die meisterhafte rhetorische Art waren, die den Hörer fingen, – ob er nicht statt zu überzeugen überredete. Was steckte hinter dem blendenden Feuerwerk, hinter der glänzenden Fassade? War es nur der Künstler, der begeisterte? Man wappnete sich gegen diese suggestive und mystische Kraft. – Aber er war mehr als ein Feuerwerker des Wortes. In den Jahrzehnten, in denen ich mit ihm in engster Freundschaft verbunden Tür an Tür arbeitete, lernte ich den echten Klee kennen, der bei aller Freude an Wirkung und Effekt der Idee des Zionismus innerlich verbunden war. Wie hätten sich die liberalen Juden Berlins um ihn gerissen, wenn er sich dazu hergegeben hätte, in ihren Versammlungen, bei ihren Banketten, seine Rednergabe zu bewähren. Aber er hat in seiner Zeit, als noch der Zionismus verpönt war, seine Vertreter boykottiert wurden, gleich nach dem Auftreten Herzls sich in den Dienst der zionistischen Sache gestellt. Unermüdlich raste er – kann man sagen – durch Deutschland, um für die Idee zu werben. So wurde er der Feind Nr. 1 der Assimilation, und erst viel später, als die zionistische Flut nicht einzudämmen war, als wir die Gemeindestuben eroberten, wurde er auch von jener Seite anerkannt. – In seiner Verteidigertätigkeit eröffnete sich nun für ihn ein neues Wirkungsgebiet. Er war keineswegs nur ein Redner, sondern, mit wunderbarem Fingerspitzengefühl begabt, wußte er stets in jeder Situation die rechte Einstellung und das rechte Wort zu finden. – Es ist vielleicht nichts charakteristischer für den Zauber, der von ihm ausging, als daß ich selbst, der ich ihn doch unzählige Male in Versammlungen gehört hatte, wenn es mir nur irgend möglich war, zu Strafverhandlungen ging, in denen er verteidigte. Fast immer geschah es schon kurz nach Beginn der Verhandlung, daß er der leuchtende Mittelpunkt des forensischen Theaters wurde. Die Art, wie er ein Zeugenverhör zu führen wußte, und wie er in einem Schlußplädoyer plan- und lichtvoll zu plädieren verstand, war einfach unübertrefflich, und auch abgebrühte, pedantische Richter konnten sich seiner Redekunst und der Logik seiner Darlegung nicht entziehen. Mehrfach war es vor­gekommen, daß nach seinem Plädoyer der Verteidiger der Anklagebehörde, der vorher den Schuldspruch beantragt hatte, sich erhob und erklärte, die Darlegungen des Verteidigers hätten ihn überzeugt, er beantrage auch seinerseits Freispruch. Ich möchte eine groteske Äußerung anführen, die vielleicht