Lost Treasure. Sandra Pollmeier. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sandra Pollmeier
Издательство: Bookwire
Серия: Treasure Hunt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783947634965
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eine komplette Übersetzung seines Codes herausgibt? Das ist doch widersinnig, oder?“

      Ben zuckte mit den Schultern. „Vielleicht war die Übersetzung für jemand Bestimmtes gedacht. Mit dem Kryptogramm wollte er sich an seinen Peinigern rächen. Sie sollten sich schlagen und streiten und sich den Kopf zerbrechen und doch nie die richtige Lösung finden. Aber vielleicht wollte er einem Menschen, der ihm wichtig war, die Möglichkeit geben, das Geheimnis doch noch zu lüften. Keine Ahnung.“ „Hm“, skeptisch verzog ich mein Gesicht. „Klingt merkwürdig.“

      Mit einem genervten Seufzen schnappte Ben mir den Brief aus der Hand. „Fakt ist: Der Brief ist echt. Das Alter stimmt genau und die Unterschrift könnte tatsächlich von La Buse stammen. Und das Kryptogramm auf der Rückseite ist exakt das gleiche, das der Piratenkapitän in die Menge geworfen hat.“ So schnell ließ ich mich nicht überzeugen. „Woher weißt du das? Bist du etwa im Besitz des Originals?“

      Ben lachte und warf sich rückwärts auf mein Bett.

      „Was ist so lustig?“, fauchte ich und drehte mich zu meinem Bruder um. Herausfordernd hob er seine linke Augenbraue. Jedes Mal, wenn er das tat, versetzte es meinem Herzen einen kleinen Adrenalinstoß.

      „Gib einfach mal „La Buse“ im Internet ein.“ Er grinste süffisant. „Und dann schau mal, was du da alles findest.“

      „Man kann das Kryptogramm im Net anschauen?“, fragte ich fassungslos und ließ mich seitlich neben Ben aufs Bett sinken.

      „Tja, der modernen Technik sei Dank!“ Ben faltete schmunzelnd seine Hände hinter dem Kopf zusammen. „Nur kann niemand etwas damit anfangen. Niemand außer uns.“

      Langsam rollte ich mich auf den Bauch und zog die deutsche Übersetzung zu mir herüber. „Dies hier ist mein Vermächtnis“, las ich vor, „der Schlüssel zum größten Schatz des Indischen Ozeans. Wer ihn zu finden vermag, der behalte ihn mit meinem Segen.“

      „Ganz schön pathetisch, der liebe Olivier.“

      Doch diesmal lies ich mich nicht von ihm irritieren. „Finde den Schlüssel zum steinernen Tor hinter den fallenden Wassern der großen Insel und folge dem Herzen der Kleinen Schwester. Es wird dich leiten in der Finsternis. Olivier le Vasseur“. Skeptisch blickte ich zu Ben hinüber. „Steinernes Tor, fallendes Wasser? Noch präziser konnte der Kerl sich wohl nicht ausdrücken? Die Seychellen bestehen aus 115 Inseln! Wo sollen wir da anfangen zu suchen?“

      „Jetzt sei nicht immer so pessimistisch“, antwortete Ben mit einem genervten Seufzen. „Er redet von Felsen, die gibt es nur auf den Inneren Inseln und das sind nur 32, die meisten davon sind recht klein. Nur konnte La Buse ja schlecht schreiben: Gehen Sie die Rue Lazare hinunter bis zur Grand Anse und buddeln dort nach 30 Metern auf der linken Seite ein Loch. Als er den Indischen Ozean unsicher gemacht hat, waren die Seychellen noch unbesiedelt. Genaue Ortsnamen kannst du also knicken.“

      Ein wenig verärgert rollte ich die Folie mit dem Übersetzungstext zusammen und schlug meinem Bruder damit auf den Kopf. „Du hältst mich für total bescheuert, gib´s ruhig zu!“

      Blitzschnell reagierte Ben. Noch bevor ich meine Hand zurückziehen konnte, schnappte er mein Handgelenk. Ohne dass ich mich dagegen wehren konnte, drückte er meinen linken Arm neben meinen Kopf ins Kissen und beugte sich wenige Zentimeter über mich. „Na, na“, flüsterte er tadelnd. „Das war aber nicht nett von dir.“

      Ich versuchte ihn mit meiner freien Hand von mir wegzuschubsen, doch dieser Akt der Befreiung endete ebenso kläglich wie meine unüberlegte Attacke vor wenigen Sekunden. Jetzt kniete er direkt über mir und hielt beide Hände gefangen. Wehren war zwecklos. Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss und mein Pulsschlag sich nahezu verdoppelte. Hoffentlich merkte er es nicht! Wie peinlich, dass seine Nähe jedes Mal so heftige Reaktionen in mir auslöste! Doch Ben sah mich nur an. Langsam verlosch sein überlegenes Grinsen, seine Züge wurden sanfter, fast ein wenig traurig. Und obwohl ich mich schämte, konnte ich doch nicht wegschauen. Mehrere Sekunden vergingen, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Dann lockerte sich Bens Griff, langsam ließ er meine linke Hand wieder los. Kaum spürbar streifte er meinen Arm hinunter bis zur Schulter. Für den Bruchteil eines Moments war mir, als ob auch sein Atem schneller ging als sonst. Dann, plötzlich, ließ er auch meine rechte Hand los, setzte sich aufrecht hin und sagte irgendetwas Dummes wie „Gefahr gebannt“ oder so ähnlich.

      Der Kerl machte mich wahnsinnig! Wollte er mich immer wieder völlig aus der Bahn werfen? Fand er das amüsant? Schluss jetzt! ermahnte ich mich selbst. Ich lasse ihn nicht so mit mir spielen! Ich habe auch meinen Stolz!

      „Ich …“, gerade wollte ich einen patzigen Spruch bringen, da klopfte es wieder an der Tür und Julie blickte zaghaft durch den Spalt.

      „Sorry“, flüsterte sie verlegen und warf mir einen entschuldigenden Blick zu. „Ben, ich muss dich dringend sprechen. Hast du gerade Zeit?“

      Ben sprang auf und war so schnell verschwunden, dass er, wäre er eine Comicfigur gewesen, kleine Rauchwolken hinterlassen hätte.

      „Oh Benni, ich muss dich ja so dringend sprechen!“, äffte ich Julie mit hoher Säuselstimme nach und rappelte mich mit einem Stöhnen wieder hoch. Dann verstaute ich alle Unterlagen im Umschlag und stopfte diesen unter meine neu eingekauften Designerklamotten in meinen Koffer. Durch die Wand konnte ich Ben und Julie miteinander reden hören. Fast schien es mir, als ob Julie weinte und mein Bruder sie mit sanfter Stimme zu trösten versuchte – vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein. So, wie ich mir in letzter Zeit anscheinend vieles einbildete. Müde ließ ich mich wieder in mein Kissen sinken. Die leisen Stimmen aus dem Nebenraum verebbten langsam, schon bald glitt ich hinüber in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

      Es war früher Morgen, als ich wieder erwachte. Draußen stand die Sonne noch tief am Himmel und auf dem Kanal vor unserem Haus fuhr ein einsamer Frachter durch den aufsteigenden Nebel. Verschlafen reckte ich mich, tastete nach meiner Brille, stapfte zum Spiegel und bürstete mir meine neuen, erblondeten Haare. Noch immer kam mir das Gesicht, das mich anblickte, fremd vor. Ich wirkte jetzt älter und irgendwie schmaler als sonst. Vielleicht hatte ich in den vergangenen Wochen ja wirklich abgenommen. Bei all dem Stress wäre das kein Wunder. In Nachthemd und Schlappen schlenderte ich hinüber zum Badezimmer, um mich frisch zu machen und meine Kontaktlinsen einzusetzen. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass das Sofa, auf dem mein Bruder in den vergangenen Tagen geschlafen hatte, leer war. Die Uhr an der Wand zeigte gerade mal halb sechs. War Ben auch schon wach? Aber das Bad war leer und allem Anschein nach hatte es heute Morgen niemand benutzt. Irritiert drehte ich mich um. Aus der mit Vorhängen verhangenen Schlafecke von Julie konnte man ein leises Schnarchen hören. Alles in mir sträubte sich dagegen, um die Ecke zu schauen. Das ging mich nichts an. Und eigentlich wollte ich es auch gar nicht sehen. Aber trotzdem drängte mich eine unbekannte Kraft dazu, auf Zehenspitzen zu Julies Bett zu schleichen und einen der seidenen Vorhänge zur Seite zu ziehen. Ein spitzer Stich durchfuhr mich, als ich die beiden dort liegen sah. Ben hatte seinen Arm um Julies Schulter geschlungen, ihr Gesicht ruhte friedlich auf seinem schwarzen T-Shirt. Ihre langen roten Haare bedeckten das Bett wie ein ausgebreiteter Fächer.

      Erschrocken machte ich einen Schritt zurück und stolperte dabei fast über die leere Rotweinflache, die hinter mir auf dem Parkett hin und her rollte. „Mist“, fluchte ich leise und hielt mich in letzter Sekunde am Bettrahmen fest. Ich hörte, wie sich einer der beiden bewegte. Ben hatte sich mit zum Glück immer noch geschlossenen Augen auf die Seite gedreht. Seine linke Hand streichelte Julies wallende Locken und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Mein Magen krampfte sich zusammen, mir wurde heiß und kalt zugleich. Am liebsten wäre ich weggerannt – aber ich konnte nicht, denn meine Knie zitterten, als wäre ich soeben einen Marathon gelaufen.

      „Jetzt reiß dich doch mal zusammen!“, schimpfte ich in Gedanken mit mir selbst. „Gleich wachen sie auf und du stehst an ihrem Bett und gaffst sie an.“ Während ich noch mit meiner Fassung rang, hörte ich Julie zufrieden seufzen. Das reichte. Mit drei großen Sätzen sprang ich zurück in den Wohnbereich, stolperte ins Bad und schloss die Tür hinter mir ab. Dort angekommen, drehte ich den Duschhahn auf, schlüpfte aus meinem Nachthemd