Er hatte eben gespielt, als hinge sein Leben davon ab, weil … weil Kor zuhörte. Zusah. Und er wusste, was der draufhatte, auch wenn Kor das selbst nicht zu wissen schien, also hatte er sich so reingehängt und … sich da schon beinahe verraten, aber man konnte doch einem anderen Mann zuzwinkern, ohne …
»Heulst du?«, fragte Nathan neben ihm und Charles fuhr herum.
Sein bester Freund stand auf der dunklen Brücke wie ein gelangweilter Cowboy, die Hände in den Jackentaschen vergraben. Er neigte den Kopf.
»Oh gut, du heulst nicht. Immerhin. Was ist passiert?«
»Nichts.« Warum hatte er vorgehabt, ausgerechnet Nathan sein Herz auszuschütten? Der verstand so viel von Gefühlen wie ein Nashorn vom Fahrradfahren.
»Geht's um den Kleinen?« Oh richtig, dafür kannte Nathan ihn. »Was hat er dir Furchtbares angetan?«
»Nichts.« Charles sank auf den kalten Boden. Echt kalt. Er fror in seinem verschwitzten Shirt. »Sorry, da war nichts.« Er grinste schwach. »Tut mir leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast.«
Zwischen Nathans Augenbrauen entstand eine tiefe Falte. Er kniete sich vor Charles nieder. Blitzschnell packte Nathan sein Handgelenk.
»Alter, was machst du?«, fragte Charles. »Wird das ein Antrag?«
»Das wird eine Kontrolle«, brummte Nathan.
Er schob den dunklen Ärmel hoch. Unwillkürlich entriss Charles ihm den Arm. Nathans Augen funkelten ihn an.
»Da ist nichts«, motzte Charles. »Für wie blöd hältst du mich? Ich fang nicht wieder damit an.«
»Zeig mir deine Arme, Charles«, sagte Nathan und klang wie seine Mutter. Trotzdem streckte Charles die Arme aus und krempelte die Ärmel hoch. Zeigte Nathan die vernarbte Haut.
»Hier, zufrieden? Nichts Neues seit Jahren.«
Nathan nickte. Er war ungewöhnlich ernst.
»Mach dir keine Sorgen um mich«, sagte Charles. »Ich komme klar.«
»Tust du nicht. Damals hast du auch gesagt, dass du klarkommst und was ist passiert?«
Charles schwieg. Eine ganze Menge war passiert.
Von dem Moment an, in dem er Elias seine Gefühle gestanden hatte. Elias mit den dunklen, schüchternen Augen, dem zaghaften Lächeln … Moment mal, hatte er etwa einen Typ Mann, auf den er stand? Egal, jedenfalls hatte Elias vollkommen entsetzt reagiert. Er war sogar wütend geworden, was Charles nie erwartet hätte. Er hatte mit einer Abfuhr gerechnet und trotzdem gehofft, so sehr gehofft, dass es Elias ebenso ginge wie ihm, aber …
Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass Elias ihn hassen würde. Dass er glauben würde, Charles hätte sich nur an ihn herangemacht, weil alle glaubten, Elias wäre schwul. Dabei hatte er nicht mal gewusst, dass es das Gerücht gab. Aber es schien Elias sehr verletzt zu haben, so, wie der ihn angebrüllt hatte.
Ich bin nicht so, du dumme Schwuchtel! Jedes Wort ein Schnitt. Und dann …
Charles hatte plötzlich keine Freunde mehr gehabt. Vollkommen fertig von Elias' Reaktion hatte er sich zuhause verkrochen. Als er nach einer Woche zurück in die Privatschule gekommen war, hatten alle gewusst, was er war. Erst hatte er nur böse Nachrichten bekommen. Sein Tisch war immer vollgekritzelt gewesen mit Beleidigungen. Aber am schlimmsten war gewesen, dass Elias nicht mehr mit ihm geredet hatte. Dieses Schweigen wog schwerer als all die anderen Dinge.
Dann hatten sie ihn in der Umkleide erwischt, als der Sportlehrer herausgerufen worden war. Und Charles war keiner, der sich einfach verprügeln ließ, also hatte er zurückgeschlagen, bis …
»Junge!« Nathan wedelte mit der Hand vor Charles' Gesicht herum. »Was ist passiert?«
»Ich glaub, er weiß es.« Frostige Kälte drückte ihm die Luft ab. Er sah, dass seine Fingerknöchel blass waren. Dass er sie zu Fäusten geballt hatte, seit … Keine Ahnung, seit wann. »Ich habe … Ich hätte ihn fast geküsst.«
»Ah.« Nathan blinzelte. »Nicht schlecht. Und dann?«
»Er hat sich erschreckt«, flüsterte Charles. »Genau wie Elias. Ich … Meinst du, er glaubt mir, wenn ich so tue, als wäre ich … Als hätte ich nicht … Als wäre das nur Spaß gewesen?«
»Na, vertrauensselig genug wirkt der«, sagte Nathan. Er fuhr sich durch die Haare, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. »Hm. Ich dachte, Elias wäre eine Ausnahme gewesen, aber anscheinend stehst du auf Hänflinge mit Welpenaugen.«
»Anscheinend.« Charles' Kehle war trocken. Mehr Bier. Er brauchte mehr Bier. »Ich … werd's ihm beweisen.«
»Dass du in ihn verliebt bist?«
»Nein. Das Gegenteil, du Idiot.«
»Aber du bist in ihn verliebt. Warum …« Nathan seufzte. »Ich weiß. Ich versteh das. Nur … Was soll passieren, wenn du es ihm sagst? Außer, dass du deprimiert rumhängst und ich dich wieder trösten muss?«
»Dein tolles Trösten hat daraus bestanden, mich abzufüllen.«
»Hat doch geholfen.«
»Einen Scheiß hat das.«
Charles erhob sich. Er wusste, was zu tun war. Er musste das geradebiegen. Er musste dafür sorgen, dass Kor nie von seinen Gefühlen erfuhr. Dass ihre aufkeimende Freundschaft nicht gleich erstickt wurde.
Vielleicht konnte er kälter zu ihm sein? Das war schwer, Kor war einfach zu verdammt niedlich, aber … es musste wohl sein. Es durfte nicht …
Es durfte nie wieder werden wie damals.
1.7 Kor
War das sowas wie ein Beinahe-Fast-Kuss gewesen? War es das? Oder bildete Kor sich das nur ein? Unschlüssig stand er im Backstage-Bereich und sah auf den Vorhang, hinter dem Charles verschwunden war. Raus gegangen, nahezu gelaufen. Eine rauchen. Seit wann rauchte Charles? Kor hatte ihn nie mit einer Kippe gesehen, okay, er kannte ihn kaum, aber …
Aber Charles hätte ihn eventuell fast geküsst.
Falls das stimmte, hatte Kor es versaut. Wie immer. Irgendwie war er zusammengezuckt, obwohl er sich verdammt nichts sehnlicher wünschte, als dass Charles ihn küssen würde. Er zitterte vor Aufregung, vor Anspannung, vor … Nervosität. Was bedeutete das? Er …
Er sollte aus diesem Backstage-Bereich verschwinden, bevor die Band zurückkam. Die kannten Charles, nicht ihn, und sie würden bestimmt denken, dass er ein mieser Einbrecher wäre, der ihren Whisky klaute … Richtig, die Flasche hatte er immer noch in der Hand.
Er verstaute sie ungefähr da, wo Charles sie herausgekramt hatte und wanderte, halb in Trance, nach hinten zum Konzert. Charles befand sich nicht in der Menge, soweit er sah. Draußen fand er ihn auch nicht. Außerdem war es da kalt, also ging er zurück. Mist.
Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er niemanden außer Charles richtig kannte. Was, wenn die ohne Charles nichts mit ihm zu tun haben wollten?
An der Bar standen Dane und Sheron. Die Band lärmte noch und in der Mitte der Tanzenden sah er den Rest der Gruppe. Vorsichtig schob Kor sich durch die Menge, immer wieder »Entschuldigung« murmelnd, obwohl ihn eh keiner verstehen konnte.
»Hey«, flüsterte er, als er es bis zur Bar geschafft hatte. Dane nickte ihm missmutig zu. Sheron strahlte ihn an.
»Kor! Wo warst du denn?«
»Ich … Charles hat mir Whisky besorgt.«
»Und, hat's geschmeckt?«
»Äh, ich … hab die Hälfte ausgehustet.»