»Wo sind wir?«, flüsterte Kor.
»Backstage.« Charles lachte und breitete die Arme aus. »Magisch, was?«
Kor kicherte. »Und was machen wir hier?«
»Wir trinken feinsten Whisky.« Charles wühlte hinter dem Vorhang herum. »Pete hat mir gerade verraten, wo er das gute Zeug versteckt hat.«
Eine Flasche erschien vor Kors Nase. Eine durchsichtige Flasche mit einem weißen Büttenpapieretikett.
»Glenladdich?«, las er ab. »Der ist gut?«
»Fünfzig Euro die Pulle. Pete hat sie beim letzten Gig als Bezahlung bekommen.«
Charles schraubte den Deckel ab. Er schnüffelte am Flaschenhals und nickte.
»Ja, riecht korrekt. Hier.«
Kor nahm die Flasche entgegen. Er warf Charles einen zögernden Blick zu. Aber dann straffte er sich und setzte die Öffnung an die Lippen. Er trank.
Das Zeug verbrannte seine Speiseröhre und verätzte seine Nasenlöcher. Die eine Hälfte schluckte er herunter, die andere hustete er aus. Whisky sprühte auf Charles' Shirt. Oh, Mist.
»Ich …«
Ein weiterer Hustenanfall verhinderte, dass er weitersprechen konnte. Schließlich wischte er sich mit dem nackten Arm den Mund ab und sah aus tränenden Augen zu Charles hoch. Der schaute besorgt.
»Oh. War das dein erster Whisky?«, fragte er.
Kor schaffte es, zu nicken. Haarsträhnen hatten sich aus seinem Zopf gelöst und versperrten ihm die Sicht.
»Ich trinke sonst nie«, gestand er. »Gar nichts.«
Komisch, vor Charles war er so ehrlich. Meistens.
»Oh. Sorry.« Ein schiefes Grinsen. »Und dann verabreiche ich dir gleich das ganz harte Zeug.«
»Nicht schlimm …«
Charles nahm ihm die Flasche ab und Kor hustete noch ein wenig. Als es endlich vorbei war, wischte er sich über den Mund und merkte, wie nah sie sich waren. Charles stand so eng bei ihm, dass seine Wärme bis zu ihm strahlte. Sehr nah. Sollte er zurückweichen? Aber er wollte nicht.
»Hey, habe ich nicht noch eine Frage frei?« Charles legte den Kopf schief. »Von gestern?«
Kor zuckte zusammen.
»Oh. Ja. Was … willst du denn wissen?«
Er konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen. Bitte nicht: Bist du noch Jungfrau?, dachte er. Oder: Bist du in mich verliebt, oder …
»Warum spielst du?«
Der Blick, mit dem Charles ihn betrachtete, war ernst. Kein Spott, kein Lächeln. Kor starrte ihn mit offenem Mund an.
»Äh …« Ach, egal. Er sagte das Erste, was ihm einfiel. »Weil es … das Einzige ist, was Sinn macht. Ich … ich weiß, ich seh nicht so aus, als … Aber wenn ich spiele ist alles einen Moment lang … ruhig. Und geordnet … nein, nicht geordnet, aber so, dass ich es verstehe, weißt du?«
»Ja.«
Charles nickte. Immer noch hatte er diesen intensiven Blick, der Kor fast verbrannte. Aber er wollte nicht wegschauen. Konnte es nicht. Das Dröhnen der weit entfernten Musik vermischte sich mit dem Hämmern seines Herzens.
»Du … wir …« Kor räusperte sich. »Wir haben einen ähnlichen Stil, oder? Oder hast du mich … nachgemacht?«
Wie unverschämt, dachte er. Hoffentlich ist er nicht sauer.
Aber Charles kam noch ein wenig näher. Oh.
»Beides.« Ein schwaches Lächeln kräuselte seine Mundwinkel. »Ich mag, wie du spielst.«
»Da-danke.« Kor konnte die Worte kaum herausbringen. Er spürte Charles' Wärme, roch dessen köstlich salzigen Geruch, hörte seinen eigenen Puls im Ohr, überdeutlich. »Willst du wirklich mit mir zusammenspielen? Ich meine … willst du mir das beibringen?«
Ein Nicken. Stumm. Warum sagte Charles nichts? Warum sah er ihn so an, so, als ob er … irgendwie total interessant wäre?
Kor wollte gerade etwas sagen, weil er es nicht mehr aushielt, als Charles eine kräftige Hand hob und ihm die Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. Raue Fingerkuppen zogen eine kribblige Spur von Kors Wange zum Ohr, und er vergaß, zu atmen. Graue Augen blickten ihn an, als wollten sie ihn hypnotisieren. Charles öffnete den Mund und erst dachte Kor, er wollte etwas sagen, aber dann … kam er immer näher …
Was?
Wollte Charles ihn …
Unwillkürlich zuckte Kor zusammen. Ein Ruck ging durch seinen ganzen Körper und Charles schreckte zurück.
1.6 Charles
Scheiße! Scheiße! Er hatte … Was tat er hier? Warum näherte er sich Kor? Diesen dunklen Augen, die ihn zu sich hinzogen wie einen Magneten, und dessen feuchte Lippen so küssenswert aussahen, dass er sich vorbeugen musste, nur noch ein paar Zentimeter, Millimeter, dann …
Kor zuckte zusammen. Riss panisch die Augen auf und Charles schreckte zurück.
Verdammt!
Er hatte … verdammt. Er hatte sich verraten. Und Kor wirkte total entsetzt. Nein! Charles wich zurück, stieß gegen die Bank, die polternd umkippte.
»Ich …« Cool bleiben. Er wusste, wie man cool blieb, oder? Das hatte er sein halbes Leben lang trainiert, also …
»Ich geh eine rauchen«, murmelte er und flüchtete aus dem Backstage-Bereich.
Super.
Scheiße.
Wusste Kor nun Bescheid? Charles rannte durch den verrauchten Gang, stieß die Glastüren auf und stand in der Kälte. Wind strich über seine verschwitzten Klamotten wie eisige Tentakel. Er … Nein. Das durfte er nicht. Nicht wieder. Er brauchte Hilfe.
Mit bebenden Fingern schrieb er Nathan, dass der zur Brücke kommen sollte. Dann marschierte er durch das Baustellengewirr, bis er weit weg vom Smokes war. Weit weg von Kor, der Dinge in ihm auslöste, die weiter schlafen mussten. Die er nicht ans Licht kommen lassen durfte weil … Wenn das endete wie damals …
Er schluckte.
Elias.
Sein bester Freund. Sein anderer bester Freund, so ganz anders als Nathan damals schon gewesen war.
Nathan hatte er hier kennengelernt, als Charles sich mit fünfzehn ins Smokes eingeschlichen hatte. Nathan, zwei Jahre älter und ebenfalls illegal dort, hatte es lustig gefunden, ihn solange abzufüllen, bis er gekotzt hatte. Hier, auf der Brücke, hatte er sich am Geländer festgeklammert und gewürgt … Eine Woche später hatte er sich revanchiert, indem er den Türstehern gesteckt hatte, wie alt Nathan war.
Dann war ein offener Krieg ausgebrochen, bis sie ein paar Monate später versehentlich in der gleichen Band gelandet waren, und erkannt hatten, wie ähnlich sie sich waren. Und das, obwohl sie so verschiedene Backgrounds hatten.
Klosterschulboy hatte Nathan ihn genannt, sobald er mehr über Charles erfahren hatte. Verzogenes Muttersöhnchen.
Hm. Warum war er nochmal mit ihm befreundet? Egal.
Elias war aus der anderen Welt gekommen. Der Privatschule, von der Nathan stets behauptete, sie wäre von Mönchen geleitet worden, auch wenn das überhaupt nicht stimmte. Er hatte sich totgelacht, als er Charles einmal in seiner Schuluniform erwischt hatte. Seiner grauen Schuluniform, unterwegs auf einem verbotenen Ausflug in die Stadt.