Kor starrte den Nazi an, der sich die Fingerknöchel rieb.
»B-bist du überhaupt ein Nazi?«, fragte er. Nein! Warum fragte er sowas? Wie konnte er seinen Helfer so beleidigen? Lag das am Adrenalin? An der Aufregung, die seinen Puls so laut hämmern ließ, dass ihm schwindlig wurde?
Der Kerl sah ihn an, Verwunderung im wutverzerrten Gesicht.
»Was?«, knurrte er. Dann schüttelte er den breiten Schädel. »Nein. Ich prügel mich nur gern.«
»Oh. E-entschuldigung.«
»Passt schon.«
Der Typ sah sich um. Alle Drei lagen auf dem Boden. Der, den er zuerst erwischt hatte, kam schwankend hoch. Er warf einen Blick auf den Nicht-Nazi in der blauen Jacke und haute ab. Seine Schritte verklangen hinter der Bushaltestelle.
»Äh, danke«, sagte Kor. »Danke, dass du mir geholfen hast.«
Der Nicht-Nazi nickte ihm zu. Und ging. Kor konnte es nicht glauben, als sein breiter Rücken am anderen Ende der Straße verschwand. Was war gerade geschehen?
Hm, wahrscheinlich sollte er abhauen, ehe die beiden Typen zu seinen Füßen sich aufrappelten. So schnell er konnte, lief er durch die Gassen. Die Maurerstraße entlang, links einbiegen, dann rechts in die …
Er hörte sie schon von weitem. Die dröhnende Musik. Gelächter und laute Stimmen. Als er in die enge Gasse einbog, sah er eine Menschentraube vor dem Smokes. Zigarettenrauch zog an ihm vorüber.
Das Smokes war ein schäbiges Ziegelgebäude. Charles hatte davon erzählt. Eine Bar, in der es regelmäßig Konzerte gab und außerdem günstiges Bier. Total … cool. Und so sah es auch aus, mit den grün leuchtenden Laternen vorne, den Neonlettern, von denen das »m« beständig flackerte und den schwarzgekleideten Leuten, die davor rauchten und redeten …
Charles! Kor entdeckte ihn sofort. Selbst in dieser Masse war sein blonder Kopf unverwechselbar. Er stand inmitten einer Runde und sprach gerade mit einem Mädchen mit türkisblauen Haaren. Als Kor herangehumpelt kam, blickte er auf. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus … und erstarb.
»Kor!«, rief er und schob sich durch die Menge. »Was ist passiert?«
»Äh …«
Scheiße. Sah man es ihm an? Kor spürte einen Kloß im Hals, der rasend schnell größer wurde.
Nein, dachte er. Nicht weinen. Nicht vor all diesen Leuten. Die sich umdrehten, ihn anschauten … Aber die Tränen drängten unaufhaltsam aus ihm heraus …
Dann war Charles da. Und schlang die Arme um ihn und alles war gut. Perfekt. Kor vergaß vollkommen, zu heulen, weil diese Umarmung besser war als alles, was er sich vorgestellt hatte. Viel besser. Der Geruch von Charles' kalter Lederjacke, die Wärme, da, wo Kors Wange seinen Hals berührte. Der feste Griff, mit dem er ihn hielt. Kor schmiegte sich hinein, war plötzlich butterweich und wollte nur noch hier bleiben … Leider löste Charles sich von ihm. Seine Hände legten sich auf Kors Schultern und sein grauer Blick drang mitten durch seine Seele.
»Was ist passiert?«, fragte Charles. Kor starrte ihn an. »Kor?«
»Äh, ja, ich bin überfallen worden. Aber es war nicht so schlimm. Ein Nicht-Nazi hat mir geholfen. Äh.«
»Ein was?« Charles sah ihn fragend an.
Kor wurde bewusst, wie viele Leute auf einmal um ihn herumstanden. Wo kamen die alle her?
»Da waren diese drei Typen, die meine Jacke und mein Geld wollten. Die sind mir aus dem Bus gefolgt. Aber das ist gutgegangen. Ein Kerl, der sich gern prügelt, hat sie verhauen.«
»Okay.« Charles wirkte verstörter als Kor sich fühlte. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus. Charles hatte sich Sorgen um ihn gemacht!
»Woher hast du gewusst, dass mir was passiert ist?«, fragte Kor.
»Mann, das sieht man dir doch an«, sagte Charles. Irgendwie schien er verärgert.
»Also mir ist nichts aufgefallen«, schnurrte jemand.
Oh, Nathan war auch da. Charles drehte sich zu ihm um. Ja, er war wütend. Warum?
»Sein Knie ist voll Dreck«, knurrte er. »Und sein Ärmel auch. Offensichtlich ist etwas passiert.«
Er sah Nathan noch böser an. Der zuckte mit den Achseln, schwieg aber. Was war los? Egal. Leider nahm Charles die Hände von Kors Schultern. Das Mädchen mit den türkisfarbenen Haaren zückte ein Taschentuch.
»Im Gesicht hast du auch was. Halt mal still.« Sie tupfte seine Wange ab. Fast wie seine Mutter, nur mit mehr Metall im Gesicht.
»Danke«, sagte Kor.
»Dafür nicht.« Sie schien zufrieden mit dem Ergebnis. »So, jetzt bist du wieder hübsch.«
Sie grinste und Kor wurde mal wieder rot.
»Danke«, murmelte er erneut.
Dann wusste er nicht, was er sagen sollte. Warum schauten ihn alle an? Wunderten die sich, was für ein Versager er war? Die …
»Versager«, grollte einer von ihnen, ein moppeliger Riese mit tätowiertem Hals. »Solche Typen sind Versager. Mich haben die auch mal erwischt, am Anfang.«
»Am … Anfang?«, fragte Kor vorsichtig.
»Als ich mich verändert habe. Als ich damit angefangen habe.« Der Riese deutete auf seinen bunten Hals. Mehrere Vögel und ein Schriftzug, den Kor nicht lesen konnte, leuchteten auf seiner Haut. »Aber das hört auf. Mach dir keine Sorgen.«
»Das? Dass sie mich ärgern, meinst du?«
»Genau. Das legt sich.«
»Äh …«
Nein, tut es nicht, dachte Kor. Tut es nie. Ich weiß das, weil sich das seit neunzehn Jahren nicht legt.
Aber Charles' Freunde waren nett, also wollte er nicht widersprechen.
»Menschen hassen Veränderung«, sagte ein Typ, der schaute, als wäre gerade sein Hund gestorben. »Die wittern, wenn einer was gefunden hat, was ihm Spaß macht. Die riechen, wenn einer ausbrechen will.«
»Tun sie das?« Kor schluckte. Oh nein. Er hatte gedacht … Hatte er sich noch mehr zum Opfer gemacht? Es hatte sich tatsächlich ein wenig wie ein Ausbruch angefühlt, heute Abend loszugehen …
»Ja, aber wie gesagt, das hört auf«, sagte Charles. Immer noch war er so nah, dass Kor seinen Duft riechen konnte. »Also mach ihm keine Angst, Dane.«
Dane zuckte mit den Schultern.
»Ich sag nur die Wahrheit. Menschen hassen Veränderung.«
»Aber sie gewöhnen sich daran«, sagte Charles. »Und man kann lernen, sich zu wehren. Kor, soll ich dir was beibringen?«
»Ja!« Kor strahlte. »Was denn?«
»American Kenpo. Ich habe das mal gemacht.« Charles grinste. »Irgendwann war ich zu faul, um weiter zum Training zu gehen, aber ich kann dir ein paar Griffe beibringen.«
»Ja, gerne.«
Irgendwie … war er schon fast über den Überfall hinweg. Komisch. Aber zu hören, dass es anderen Leuten auch so gegangen war, und dann noch Charles' Angebot, das bedeutete, dass er Zeit mit ihm verbringen wollte (Mit ihm! Kor!) wirkten wie ein Heiltrank.
Charles blieb an seiner Seite, als sie in das Smokes gingen. Er stellte ihm die anderen vor und die waren so nett, dass Kor sich richtig wohlfühlte. Selbst hier, in dem verrauchten, lauten Club mit der aus alten Bierkästen zusammengenagelten Bühne, der ihn früher bestimmt total eingeschüchtert hätte.
Ohrenbetäubende Musik drang ihnen