»Ach so. Na, du hast ja noch uns.« Sie legte ihren Arm um ihn. »Wir passen schon auf dich auf.«
»Auf mich muss man nicht aufpassen«, murmelte er.
Aber in seiner Brust wurde es warm, sobald er ihre Worte hörte. Selbst Dane schenkte ihm erneut sowas wie ein Nicken. Anscheinend hatten sie ihn adoptiert.
»Gefällt's dir?«, fragte Dane. Er deutete mit seiner Bierflasche auf die Band, deren Sänger sich gerade auf dem Boden wälzte, und dann, ohne die Hände zur Hilfe zu nehmen, einen Meter hoch in die Luft sprang und weitersang.
»Ja.« Kor nickte ernsthaft. »Ich … will noch mehr solche Musik hören, glaub ich.«
Ein Licht ging in Danes Augen auf.
»Echt? Dann musst du dir unbedingt Radioactive Raider reinziehen! Die sind die Götter des Medieval Thrash Metal mit Akustikeinflüssen!«
»Aha«, sagte Kor.
»Und hör dir Domspast an. Aber nur die ersten drei Alben, danach sind die total Mainstream geworden …«
»Attack on Köln-Porz ist wohl ein geniales Ding«, mischte Sheron sich ein. »Viel besser als ihr alter Scheiß.«
Dane verdrehte die Augen.
»Das sagst du nur, weil du nicht von Anfang an dabei warst. Früher …«
Ab diesem Zeitpunkt war Kor nur noch an der Diskussion beteiligt, wenn sie ihm rieten, unbedingt (oder auf gar keinen Fall) ein bestimmtes Album zu hören.
Aber das war okay. Er hörte aufmerksam zu, wenn er sich nicht gerade den Hals verrenkte, um Charles zu entdecken. Leider konnte er nicht viel erkennen, klein, wie er war. Er wollte ihn sehen. Ihn fragen, ob das fast ein Kuss gewesen war. Und ihm irgendwie klarmachen, dass er es wirklich gut finden würde, wenn das fast ein Kuss gewesen wäre und dass er ihn gerne echt küssen würde und …
Allein der Gedanke, irgendetwas davon auszusprechen, schnürte ihm den Hals zu. Das konnte er nicht. Nie. Er konnte … Er hatte sich nicht mal getraut, in der Schule aufzuzeigen. Da konnte er doch nicht dem tollsten Mann, der je gelebt hatte, erklären, dass er … dass er …
Aber Kor wollte mutig sein. Wenn Charles vor einem ganzen Raum voll Menschen spielte, sich sogar traute, in die Menge zu springen, dann konnte Kor doch … Immerhin war er heute überfallen und fast verprügelt worden und selbst das hatte er überlebt. Irgendwie fühlte er sich seit gestern stärker.
Er atmete tief ein und beschloss, Charles zu fragen, sobald er ihn sah. Egal, ob er jetzt schon Schweißausbrüche hatte, wenn er sich das nur vorstellte. Alles egal. Oder? Wenn auch nur die geringste Chance bestand, dann … war es das wert, nicht wahr? Bestimmt. Natürlich.
Keine Angst, dachte er, ballte die Fäuste und … machte sich fast in die Hose, als Charles' blonder Schopf plötzlich aus der Menge ragte. Ein verführerisches Lächeln blitzte zwischen den hüpfenden Köpfen auf. Oh Gott.
Ich schaff das nicht, dachte er. Auf keinen Fall. Aber … ich muss.
Er straffte sich. Charles kam auf sie zu, soweit er das erkennen konnte. Gut. Schlecht. Keine Ahnung. Kors Herz hämmerte im Takt der Musik, überholte sie … Charles war nur noch wenige Meter entfernt, gleich würde er ihn sehen, gleich würde Kor ihm gegenüberstehen.
Ich muss dich was fragen, übte er im Kopf. Kommst du kurz mit raus? Bitte. Ich …
Was war das?
Charles war nicht allein. Sein Arm lag auf den Schultern der schwarzhaarigen Schönheit, die nach dem Auftritt bei ihm gestanden hatte. Er senkte den Kopf und flüsterte etwas in ihr Ohr. Sie lächelte geheimnisvoll. Ihre dunkel geschminkten Lippen glänzten.
Oh.
Nein. Nein, aber … Das war bestimmt eine gute Freundin. So konnte man ja wohl mit einer Freundin umgehen, die man sehr mochte, und …
Als Charles und ihn nur noch drei Meter trennten, zog der die Dunkelhaarige näher an sich heran und …
… küsste sie. Auf den Mund.
Ein gleißendes Schwert bohrte sich in Kors Brust. Seine Knie drohten nachzugeben. Nein!
Nein. Natürlich hatte Charles … Hatte jemand, der so war wie Charles, kein Interesse an ihm. Natürlich wollte der ein wunderhübsches Mädchen …
Kor schaffte es nicht, ein unbewegtes Gesicht zu machen, als Charles und die Schönheit sich zu ihnen durchgekämpft hatten. Er konnte es nicht.
»Mariella kommt aus Dortmund«, hörte er Charles sagen. Charles, der ihn keines Blickes würdigte. Er stand so weit von Kor entfernt, dass er ihn kaum verstand. »Ich zieh mit ihr weiter, zeig ihr ein wenig die Stadt.«
Die anderen beiden prosteten ihm zum Abschied zu. Kor hatte weder ein Bier noch die Kraft, um sich zu bewegen. Aus Augen, die drohten, überzulaufen, beobachtete er, wie Charles' breiter Rücken und Mariellas schmaler von der Menge verschluckt wurden.
Vollidiot, dachte er. Du Vollidiot. Natürlich hat er kein Interesse an dir.
Er war schon wieder zu aufgewühlt, um loszuheulen. Zum Glück. Wie eine Statue stand er in der tobenden Menge. Sah zu dem Ausgang, durch den Charles und Mariella verschwunden waren. Er fühlte gar nichts. Nur ein Loch, da, wo viel zu viel Hoffnung gewesen war. Da, wo … Er schluckte.
Er hatte es doch gewusst. Bella hatte von irgendwelchen Frauengeschichten gesprochen.
»Der alte Weiberheld«, knurrte Dane. »Dabei wollten wir nachher zusammen zu Marcel gehen.«
»Tja, die Süße war ihm wohl wichtiger«, sagte Sheron. »Du kennst ihn ja.«
»Ist er oft …« Kor wollte eigentlich schweigen, aber er musste es wissen. »Hat er viele, äh, Freundinnen?«
»Der treibt sich schon rum«, sagte Sheron. »Nicht so schlimm wie Nathan, aber genug.«
»Hattest du nicht auch mal das Vergnügen?«, fragte Dane sie und wirkte ein wenig … so, wie Kor sich gerade fühlte. Der hatte das Gefühl, man hätte sein Herz herausgerissen und über eine raue Ziegelwand geschmiert. Die Türkishaarige zuckte mit den Achseln.
»Lange her«, sagte sie und nahm einen Schluck Bier. »Sehr lange her. Damals war ich noch naiver.«
Kor schluckte.
»Naiver?«, fragte er.
Sie sah ihn gleichmütig an.
»Hab geglaubt, er mag mich. Tut er auch, aber ich dachte, er mag mich so richtig. Das denkt man ab und zu, wenn er sich plötzlich um einen kümmert. Dann ist er so intensiv, als gäb's nichts anderes außer dir. Dabei ist er zu jedem so. Der Junge ist begeisterungsfähig, aber ein Windhund.«
Sie trank weiter. Kors Herz stürzte ab.
»Ach so«, murmelte er.
Er wollte gehen. Er musste hier raus, sonst würde er anfangen zu heulen. So schnell wie möglich heim, sich unter der Decke verkriechen, alles vergessen und wieder Korbinian sein, der sich nichts traute. Der nie an einem Ort wie diesem hätte sein dürfen. Er gehörte nicht hierher. Er musste den Bus bekommen.
Oh nein. Mit Schrecken sah er auf sein Handy. Ein Uhr morgens. Er hatte den letzten Bus verpasst! Wie war die Zeit so rasch vergangen? Er musste … irgendetwas tun. Konnte er einfach hierbleiben?
In diesem Moment ging die Band schweißverklebt von der Bühne.
Zugabe, dachte er panisch. Zugabe!
Aber es gab keine. Mist. Die ersten Gäste strömten bereits dem Ausgang zu. Dane und Sheron unterhielten sich noch, aber … Wie lange würden die bleiben? Er sah sich schon an der Bushaltestelle stehen, zitternd, stundenlang. Was, wenn diese drei Typen zurückkamen? Was, wenn ihn diesmal niemand rettete? Wenn …
»Hauen