Alle Kraft verließ ihn. Er gab Nathan frei. Egal. Ihm war mit einem Mal verflucht egal, was der Trottel tat. Er kippte seinen Kaffee hinunter und wandte sich um, um sich anzuziehen, zur Arbeit zu gehen und alles zu vergessen.
»He.« Nathan räusperte sich. »Warte doch mal, ich … hab das nicht so gemeint.«
Überrascht drehte Charles sich um. Verdammt, der Kerl war ernst. Nathans Gesicht strahlte nahezu vor Aufrichtigkeit.
»Ich …« Nathans Finger trommelten auf die Tischplatte. Die Worte schienen ihm schwerzufallen. »Ich mach mir Sorgen um dich. Wegen der Sache damals. Wegen Elias. Wenn das wieder so läuft …«
Charles sah zu Boden.
»Äh, danke.« Er rieb seinen Arm. Nathan kratzte sich am Hals. Sie schafften es nicht, sich anzusehen. »Aber das wird schon. Ich werd ihn einfach nicht wiedersehen und abwarten, bis das alles vorbei ist.«
»Oh. Gut.« Nathan nickte. Dann erhob er sich. »Gut, auf zur Arbeit.«
Dass Nathan absolut pünktlich war, gehörte zu seinen erstaunlichsten Eigenschaften.
Charles hörte die Haustür zuklappen, als er sich anzog. Sein Handy checkte. Keine Nachricht von Kor. Na ja, was sollte der ihm auch schreiben? Obwohl, er hatte doch … Charles hatte ihm alles Mögliche versprochen, in seinem Glückstaumel. Dass er ihm beibringen würde, sich zu verteidigen. Dass sie jammen würden. Und Kor hatte gewirkt, als würde er sich darüber freuen. Also warum meldete er sich nicht?
Du willst doch gar nicht, dass er sich meldet, sagte eine ruhige, vernünftige Stimme in seinem Hinterkopf. Du willst ihn nie wiedersehen, weil es dir nicht guttut, verliebt zu sein. Aber …
Ob er sich nicht meldete, weil er beschäftigt war? War er … vielleicht gerade bei Sheron? Heiße Eifersucht durchstieß seinen Magen, obwohl er nicht mal das Recht hatte, eifersüchtig zu sein.
Oder wartete Kor darauf, dass er sich meldete? Dass Charles ihm zu verstehen gab, dass er ihn wirklich sehen wollte? Unsicher genug hatte er gewirkt.
Nun, da konnte er lange warten. Charles würde ihm bestimmt nicht schreiben.
1.11 Kor
Am Abend kam Mina zu Besuch. Kor hörte ihr helles Lachen aus der Küche und trottete die Treppe hinunter. Immer noch trug er die Klamotten von gestern. Alter Rauch und Schweiß umhüllten ihn wie ein grässlicher Schutzschild.
Seine Familie sah auf, als er hereinkam. Drei Augenpaare, deren Starren ihn unbeeindruckt ließ.
»Hallo«, murmelte er und sah seine Eltern abwartend an. Aber die schienen nicht mehr sauer zu sein. Ganz im Gegenteil. Mina dagegen schaute misstrauisch.
»Was ist passiert?«, fragte sie. Sie sah irgendwie alarmiert aus.
»Nichts«, sagte Kor, setzte sich und versuchte, ausdruckslos zu schauen. Sie kannte ihn wohl einfach zu gut.
»Nian …« Ihr Gesicht verzog sich zu einer tadelnden Grimasse. »Lüg mich nicht an.«
»Ich lüge nicht«, brummte er.
»Natürlich lügst du, Nian! Was ist los?«
»Ich lüge nicht!«, schnappte er. Schweigen.
»Kinder, jetzt hört mal auf, zu zanken«, sagte seine Mutter. Sie strahlte.
»Mama, das kann doch nicht wahr sein! Schau dir an, wie er aussieht. Und gestern war er mit einem Kerl unterwegs, der … der sah total fragwürdig aus.«
»Tut er nicht!!« Kors Hände ballten sich zu Fäusten. Vermutlich hatte sie sogar recht, aber … er wollte nicht, dass sie so über Charles sprach.
»Natürlich tut er das. Der sah aus wie ein Dealer.«
»Sah er nicht!«
»Hach, ist das schön, wenn ihr euch streitet.« Seine Mutter lächelte gütig. »Wie richtige Geschwister.«
»Was?«, fragten sie im Gleichklang.
»Na, sonst lässt er sich immer von dir unterbuttern, Mina.« Seine Mutter nickte Kor zu. »Schön, dass du dich mal wehrst, Kleiner.«
»Bin nicht klein«, grummelte er.
»Natürlich bist du …« Minas Kopf schwang herum und sie sah ihre Mutter böse an. »Ich habe ihn nicht untergebuttert. Ich habe auf ihn aufgepasst.«
»Selbstverständlich hast du das.« Ihre Mutter hüstelte. »Du warst nur manchmal ein wenig forsch, wenn du …«
»War ich gar nicht!« Ups, Minas wütender Blick richtete sich auf ihn. Kor versuchte, in seinem Stuhl zu versinken. »Und wir reden. Nachher.«
»Jaistgut«, murmelte er. Und hoffte, dass das Essen ewig dauern würde.
Tat es nicht. Bereits um neun marschierte Mina die Treppe hoch, in sein Zimmer, und er trottete hinterher. Schweigend schloss er die Tür hinter ihnen und setzte sich neben sie auf das Bett.
»Also. Was ist da los?«, fragte sie.
»Ich …«
Er sah sie an. Und seufzte. Wenn sie ihren strengen Große-Schwester-Blick aufsetzte, war Gegenwehr unmöglich.
Also erzählte er ihr alles. Absolut alles. Dass er sich verliebt hatte, genau in den Falschen. Dass Charles ihm eine neue Welt gezeigt hatte, aber dass er seine Gefühle leider nicht im Geringsten erwiderte und dass er sich blöde Hoffnungen gemacht hatte und dass Charles absolut unwiderstehlich war, und …
Er schaffte es tatsächlich, Mina zu schockieren, was er nur äußerst selten hinbekam. Wie immer fing sie sich schnell.
»Okay.« Sie nickte. »Okay. Ich hab ja nichts dagegen, wenn du auf Kerle stehst, aber dieser Charles? Der geht gar nicht. Du musst dir unbedingt einen besseren Geschmack zulegen.«
Will ich nicht, dachte Kor. Aber er sagte nichts, murmelte nur etwas Vages.
»Der tut dir nicht gut. Schau doch mal, wie traurig du guckst. Wie fühlst du dich?«
»Müde«, sagte er wahrheitsgemäß. »Aber irgendwie auch lebendig. Mehr als sonst. Ich will … Ich würde ihn gern wiedersehen, glaub ich.«
»Warum das denn? Der Typ hat dir nur wehgetan.«
»Nicht nur. Nur … einmal. Und er kann ja nichts dafür, dass ich mich in ihn …«
»Das muss der doch gemerkt haben! Du lügst so schlecht! Du hast es noch nie geschafft, deine Gefühle zu verbergen.«
»Ja … aber … ich glaub nicht, dass er …«
»Nian, das kann nichts werden. Kümmer dich lieber mal darum, einen Studienplatz zu finden, anstatt solchen Windhunden hinterherzurennen.«
Windhund. So hatte Sheron ihn auch genannt. Und wahrscheinlich hatten sie recht. Nur …
»Aber es … ist doch mein Leben. Meins«, sagte er vorsichtig. Er hatte das Gefühl, mit jeder Minute zu schrumpfen.
Minas Fingernägel trommelten tonlos auf die Bettdecke ein.
»Ja, ist es. Und du hast nur eins, also mach nicht so einen Blödsinn damit. Dieser Typ wird dir nur wieder das Herz brechen, wenn du ihm hinterherläufst.«
»Aber es ist mein Herz.« Er schluckte. Ballte die Fäuste. »Und ich kann damit machen, was ich will. Und ich kann …«
»Nichts kannst du«, stöhnte sie. »Du kannst ja nicht mal auf dich aufpassen. Du … Was hättest du gemacht, wenn dieser komische Typ dich nicht vor den Schlägern gerettet hätte? Dann wärst du jetzt im Krankenhaus.«
»Charles hat gesagt, er bringt mir American Kenpo bei. Was immer das ist.«
»Du