»Tut mir leid«, sagte Kor. »Echt, aber …«
»Junge.« Sein Vater verschränkte die Arme und seine Mutter tat es ihm gleich. »Weißt du, wie viele Sorgen wir uns gemacht haben? Wir sind eben angekommen und du warst nicht da. Wo hast du dich rumgetrieben?«
»Ich …«
Er wollte sich wieder entschuldigen, aber … Er war in der letzten Nacht überfallen worden, hatte sein erstes Konzert erlebt, hundert neue Eindrücke ins Gesicht geklatscht bekommen und Charles hatte ihm das Herz gebrochen. Eigensinn wallte in ihm auf. Er konnte nicht mehr.
»Ich bin neunzehn«, knurrte er. »Ich kann nachts wegbleiben, wenn ich will.«
Energisch feuerte er die Jacke an die Garderobe und marschierte an den beiden vorbei. Die starrten ihn mit hängenden Unterkiefern an.
Als er die Treppe hochstapfte, hörte er sie jubeln.
»Endlich!«, quietschte seine Mutter. »Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, dass er sich mal normal verhält. Natürlich dürfen wir ihm das nicht durchgehen lassen, aber …«
Er knallte die Zimmertür hinter sich zu und schloss ab. Sein Raum kam ihm mit einem Mal kleiner vor. Bedrückender.
»Hallo Cherry«, sagte er.
Cherry stand an der Wand und bewegte sich nicht.
»Ich war … Ich habe … Charles mag mich doch nicht. Aber ich hatte einen schönen Abend, irgendwie. Teilweise. Ich …«
Er schluchzte leise. Dann nahm er sie und drückte sie an sich. Als er sich ausgeweint hatte, begann er, zu spielen. Lange.
Er versuchte, in Tönen auszudrücken, was er nicht erklären konnte. Wie er Charles auf ein Podest gestellt hatte und der einfach heruntergehüpft war, um sich mit einem wunderhübschen Mädel aus Dortmund zu vergnügen. Wie anders er sich fühlte, wie … Er wollte etwas erschaffen, das so ähnlich klang wie die Lieder gestern. Wie Doomsday Destruction. Es klappte nicht, aber irgendwie mochte er die schräge Melodie, die dabei herauskam. Er nannte sie »Smokes«, weil ihm nichts Besseres einfiel.
Nach ein paar Stunden, als seine Finger wehtaten, lud er jedes Album von Domspast herunter, das er finden konnte. Mitten im zweiten Album (»Ehrlos in Ehrenfeld«) schlief er ein.
1.10 Charles
Als Charles morgens aus seinem Zimmer torkelte, saß Nathan schon am Küchentisch und schüttete Kaffee in sich hinein. Komplett angezogen. Sein enger Pulli schaffte es nicht, die frischen Knutschflecke an seinem Hals zu verbergen.
Charles hörte leises Schnarchen hinter Nathans Zimmertür. Weibliches Schnarchen, wenn er sich nicht täuschte.
»Heute mal ein Mädel?«, fragte er und schleppte sich zur Kaffeemaschine.
Der gestrige Abend saß ihm noch in den Knochen. Und im Kopf. Der gesamte gestrige Abend. Kor, der Auftritt, das Bier, Kor, Mariella, Kor … vor allem Kor. Dessen dunkle Augen hatten ihn bis in seine Träume verfolgt.
Am liebsten wäre er gar nicht aufgestanden. Aber Bella würde ihn sofort feuern, wenn er nicht zur Arbeit erschien. Was gerade der einzige Grund war, aufzustehen. Und die Arbeit würde ihm guttun. Arbeit war Ablenkung.
Er stützte sich schwer auf die Anrichte. Sie war kühl unter seinen Handflächen. Die ganze Bude war zu kalt. Und er trug nichts als Boxershorts. Immerhin schlängelte sich köstlicher Kaffeeduft in seine Nasenlöcher. Er ignorierte den Stapel schmutzigen Geschirrs neben seinem Kopf und durchwühlte den Schrank.
»Hm«, brummte Nathan. »Ja, ein Mädel. Und bei dir?«
»Mariella. Ist schon wieder weg.«
Je weniger er darüber sprach, desto besser. Er fühlte sich dreckig. Und feige. Und absolut erbärmlich.
Charles goss Kaffee in seine »Radioactive Raider«-Tasse und setzte sich neben Nathan. Rieb sich durchs Gesicht. Sein bester Freund betrachtete ihn mit einem verdammt seltsamen Ausdruck.
»Hat's funktioniert?«, fragte er. »Hast du den Kleinen vergessen?«
»Deshalb habe ich nicht …« Als ob er Kor vergessen könnte. Nie. Er wünschte, er könnte es. »Machst du mir etwa Vorwürfe, weil ich jemanden abgeschleppt habe? Du?«
»Aber nein.« Nathan schlürfte seinen Kaffee. »Das würde ich nie tun. Übrigens habe ich gestern mit deinem Süßen geredet.«
»Ah.« Charles gab sich Mühe, nicht zusammenzuzucken. »Und?«
»Hm.« Nathan wiegte den Kopf hin und her. »Hab ihm angeboten, ihn in die Liebe einzuführen.«
»Was hast du?« Charles knallte die Tasse auf den Tisch. »Du …«
Er biss die Zähne aufeinander. Von diesem Wichser würde er sich nicht verarschen lassen.
»Haha, lustig«, sagte er. »Und? Hat er zugestimmt?«
»Klar.« Nathan lächelte freundlich. »Was meinst du, wer da in meinem Zimmer schnarcht?«
Charles sprang auf. Der Stuhl klapperte hinter ihm zu Boden und er raste auf Nathans Tür zu. Riss sie auf. Und erblickte das hübsche, wohlgerundete Mädel, das in Nathans schwarzer Bettwäsche schlummerte.
»Sehr komisch«, zischte er und schloss die Tür wieder. Leise.
»Total.« Nathan schüttelte den Kopf. »Dass du darauf reinfällst.«
»Na und?«
Schlecht gelaunt trottete er zurück an den Tisch. Er sollte wirklich lernen, Nathan zu ignorieren.
»Ich hab's ihm tatsächlich angeboten«, sagte Nathan. Als er Charles' Blick sah, fügte er hastig hinzu: »Nur, um was auszutesten. Denkst du, ich mach mich an ihn ran, wenn ich dir versprochen habe, dass ich brav bin?«
»Was wolltest du denn austesten?«, knurrte Charles. »Ob er auf Vollhorste steht?«
»Nein, ob er auf Kerle steht. Und«, Nathan neigte bedauernd den Kopf, »dein Instinkt hat dich nicht getäuscht. Er mag keine Männer.«
»Du meinst, er mag dich nicht.«
»Wer mich nicht mag, steht nicht auf Kerle.«
Charles schnaubte verächtlich. Kor … Würde er ihn überhaupt je wiedersehen?
»Ist er gut nach Hause gekommen?«, fragte er.
»Ach, das interessiert dich plötzlich?«
»Ich habe Sheron gefragt, ob sie ein Auge auf ihn haben kann. Die fand ihn eh niedlich.«
»Super.«
Nathan kippte den Rest seines Kaffees hinunter.
»Ich glaube, die findet ihn sogar ziemlich niedlich. Vielleicht werden sie ja ein Paar, dank deiner Hilfe.«
Der Gedanke schnürte Charles' Brust zusammen. Nein. Bitte nicht. Nicht jetzt schon.
»Was beschwerst du dich?« Nathan stand auf. »Du hast doch gestern auch wen heimgebracht. Dann heul nicht, wenn der Kleine dasselbe macht.«
»Ich habe …« Charles wusste, dass es besser wäre, die Klappe zu halten. Aber irgendwie drängten die Worte hinaus, als ob er nicht Nathan vor sich hätte, sondern einen strengen Beichtvater, dem er erklären musste, dass er nicht so verdorben war, wie es schien. »Ich habe nicht mit ihr geschlafen. Ich konnte nicht.«
Nathan schaute ihn ungläubig an. Blinzelte. Und brach in ohrenbetäubendes Lachen aus.
»Du hast«, brachte er zwischen zwei hastigen Atemzügen heraus. »Du bist … du bist impotent aus … Liebe?«
Der Idiot