Tom verzog kaum merklich den Mund. »Wer?« Er setzte das Glas ab und sah mich mit verwirrter Miene an. Das mochte ich an ihm: Er war ein Mann, wie es nur sehr wenige gab, einer, der nie mehr als nötig sprach und der ein Geheimnis für sich behalten konnte. Deshalb war auch mindestens die Hälfte seiner Kundschaft Namenlose oder solche, die sich den Namen eines anderen angeeignet hatten. Natürlich wussten auch die kaiserlichen Soldaten davon, doch Tom hatte die seltene Gabe, sich im Falle des Falles überzeugend dumm zu stellen. Zudem zahlte er vermutlich den doppelten Betrag an Steuern, was in Zeiten wie diesen in einer Stadt wie dieser einen jeden Soldaten dazu brachte, nicht zu genau nachzufragen.
»Ist das oberste Zimmer frei?«, fragte ich nach einer Weile.
Der Wirt nickte stumm, warf einen Blick zur Eingangstür und holte einen Schlüssel unter der Schürze hervor. »Du kennst ja den Weg.«
Ich nickte und wollte schon nach dem Schlüssel greifen, als Tom ihn zurückzog. »Erst wird bezahlt!«
»Du alter Blutsauger, als hätte ich dir schon jemals die Miete vorenthalten.«
»Prinzipien sind nun mal Prinzipien.«
Aus dem kleinen Beutel, der unter dem Mantel versteckt an meinem Gürtel hing, fischte ich ein paar Kupferlinge hervor und legte sie auf den Tresen. »Das sollte für zwei Nächte reichen.« Schließlich holte ich zwei weitere Kupferstücke hervor und übergab sie ihm unauffällig, während ich nach dem Schlüssel griff. »Die sind dafür, dass du vergessen hast, dass ich hier bin.«
»Keine Papiere, keine Namen, keine Erinnerungen, kein Verrat.« Tom zwinkerte mir zu und steckte die Münzen ein.
Währenddessen huschte ich bereits über die knarrende Treppe zur Galerie hinauf, von der man in die Stube hinunterblicken konnte.
An ihrem Ende führte eine kleine Treppe in das nächste Stockwerk und dort angekommen musste man mit dem Schlüssel die letzte Tür des langen Gangs aufsperren, um über eine schmale Wendeltreppe noch weiter hinauf zu gelangen.
Jede einzelne, mit dickem Staub bedeckte Stufe knarrte unter meinen Schritten. Modergeruch stieg mir in die Nase, während ich mit ausgestreckten Armen nach der Tür und dem Schloss tastete.
Die Türe glitt mit einem leisen Ächzen auf und ich betrat das düstere Zimmer. Schnell zog ich die Vorhänge auf und öffnete die kleinen Fenster, um Licht und frische Luft in den Raum zu lassen.
Schließlich setzte ich mich mit einem leisen Seufzer auf die Bettkante. Schon mehrere Male hatte ich hier genächtigt – zumeist dann, wenn ich die Soldaten fürchten musste. Tom hatte dieses Zimmer eigens für Gäste meines Standes auf dem flachen Dach des Wirtshauses anbauen lassen. Der Boden bestand aus unbehandelten Holzbrettern, welche direkt auf das alte Dach genagelt worden waren, was den Nachteil hatte, dass es besonders in der kalten Jahreszeit eisig war und man bei starken Regengüssen nasse Füße bekommen konnte. Bestimmt waren so manche Wandteile – hinter großen, schäbigen Bildern verborgen – von Schimmel überzogen, doch das kümmerte mich wenig. Kaum jemand wusste von diesem Raum, und von der Straße aus war er nicht zu sehen, da sich der aufgestockte Teil so weit hinten befand. Wurde man verfolgt, konnte man durch das Fenster über das Dach zum Nebengebäude fliehen.
Es klopfte, und der Bursche, der zuvor die Stube ausgefegt hatte, trat mit meinem Gepäck ein. Schüchtern stellte er die Taschen bei der großen Truhe neben der Tür ab und hielt den Blick gesenkt. »Euer Pferd ist in den Ställen untergebracht. Wenn Ihr zahlt, bekommt es auch Heu«, teilte er mir mit zaghafter Stimme mit.
Ohne ein Wort zu sprechen, drückte ich ihm das Geld in die Hand – mit natürlich einem zusätzlichen Kupferstück, das mir sein Schweigen zusicherte – und scheuchte ihn aus dem Raum.
Ich überprüfte den Inhalt meiner Satteltaschen und verstaute sie zusammen mit den meisten meiner Waffen und dem Rückenschwert in der Truhe, die ich absperrte. Den Schlüssel steckte ich ein und legte mich anschließend samt meiner Kleidung, dem Breitschwert und den Stiefeln ins Bett. Nur den Mantel hatte ich ausgezogen und an den einzigen Haken an der Wand gehängt. Kurz darauf war ich auch schon in einen traumlosen Schlaf gefallen.
2. KAPITEL
Mit einem leisen Gähnen erhob ich mich aus dem Bett. Müde blinzelte ich mir den Schlaf aus den Augen und schlug mir auf die Wangen, um munter zu werden. Es schien noch die Sonne durch das Fenster, weshalb ich annahm, dass ich nicht allzu lange geschlafen haben konnte.
Leise verließ ich das Zimmer und stieg die Stufen hinunter, immer darauf bedacht, keine frischen Abdrücke in der Staubschicht zu hinterlassen.
Anstatt in die Wirtsstube begab ich mich jedoch in den Stall, wo Nothon an einem Pflock festgebunden war und gerade Heu fraß.
Der Hengst wieherte auf und zog an seinen Zügeln. Schnell befreite ich ihn aus dem Zaumzeug und gab ihm eine Möhre zu fressen.
Als ich auf die Straße hinaustrat, war es bereits späterer Nachmittag. Die Leute wirkten allesamt müde und machten in ihren verdreckten Lumpen einen erschreckenden Eindruck. Es dauerte nicht lange, da kam auch schon der erste Mann auf mich zu, ein Krüppel, dem ein Arm wohl als Strafe für Diebstahl abgeschlagen worden war. Mit flehenden Gesten und bettelnden Worten streckte er mir die Hand entgegen und zupfte an meinem Mantel. Das erregte sofort die Aufmerksamkeit weiterer Bettler, die nun herbeihumpelten, in der Hoffnung, von einem Fremden eine mildtätige Gabe zu erhaschen, doch ich schüttelte nur den Kopf und eilte mit schnellen Schritten davon.
Zwar war ich wohlhabender als die meisten Menschen, die in diesem Teil der Stadt wohnten, doch war ich der festen Überzeugung, dass ein jeder Mann, der kräftig genug war, in einer Stadt wie dieser Arbeit bekommen könne. Kein Mensch arbeitet gerne in einer Gerberei oder mühte sich bei den Webern ab, wo man Stoffe in kaltem, schmutzigem Wasser walken musste, doch statt zu betteln würde ich lieber bis zum Umfallen schuften, zumal ein verarmter Mensch ohnehin kein langes Leben zu erwarten hatte.
In der Hauptstraße tummelten sich Bewohner aus den wohlhabenderen Vierteln, die auf dem Weg zu den Märkten waren oder gerade von dort kamen und die erworbenen Güter nachhause schleppten.
An einer Straßenecke übten sich Spielleute im Gesang und ernteten Gelächter wie auch Bewunderung, an einer anderen stand ein Mann von kleinem Wuchs auf einem Podest und verkündete mit krächzender Stimme die neuen Erlässe. Jeder Stadtbewohner war verpflichtet, sich über die neuen Gesetze und Bestimmungen zu informieren, doch bezweifelte ich, dass man sich auch daran hielt, denn in einer korrupten Stadt wie dieser bestimmte das Geld über Recht, Unrecht, Anklage und Verurteilung.
Lautes Gejohle erregte meine Aufmerksamkeit. Eine Straße weiter drängten sich Dutzende Bürger um eine der Attraktionen. Als ich näher kam, konnte ich die laute Stimme des Mannes hören, der die Aufregung ausgelöst hatte.
»… Kupferstücke, für sieben Würfe! Wir haben schrumpelige Äpfel, faulige Eier, schimmliges Brot und – als besonderes Geschenk für jeden, der sieben Mal diese hässliche Fratze trifft –, einen Krug mit der Pisse meines Weibes!« Kaum hatte der fettleibige Mann zu Ende gesprochen, johlten die Schaulustigen auf und klatschten Beifall.
Neugierig trat ich näher und schob mich durch die Reihen, bis ich schließlich freie Sicht auf eine Kreatur hatte, deren Leib an ein hölzernes Gerüst gekettet war. Schwere Eisenringe und dicke Ketten verhinderten jede Bewegung.
Ganz langsam hob diese Kreatur, am ganzen Leib beschmutzt und verdreckt, den Kopf. Die gelben Augen, die in den Augenhöhlen förmlich aufzuleuchten schienen, waren mit einem Mal auf mich gerichtet, so als hätten sie die ganze Zeit nur mich im Visier gehabt.
Im selben Augenblick drängten sich zwei Burschen vor mich und stießen mich zurück. Ein Gefühl von Entsetzen und Abscheu gegenüber all jenen, die dieses bedauernswerte Wesen