Klangvolle Stille. Julian Schwarze. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julian Schwarze
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783902901354
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mir bereits von meinem ersten Schrei an feindlich gesinnt war. Jenem ersten Schrei, den ich vermutlich in einem Wald wie diesem hier tat, fern jeder Menschenseele.

      Menschen wie ich waren keine Seltenheit.

      Menschen… ich wusste nicht einmal, ob ich tatsächlich jenem Volk angehörte, da ich nichts über meine Vorfahren wusste. Doch zumindest dem Aussehen nach glich ich den Menschen, hatte die Statur eines kräftigen Mannes, schlanke Beine, die sowohl lange Märsche als auch schnelles Laufen und das Erklimmen niedriger Mauern gewohnt waren, große Hände, die den Schwertgriff fest umschlossen oder den Bogen spannten, eine muskelbepackte Brust, die von Narben überzogen war, Ohren, die das leiseste Geräusch wahrnahmen, das dunkle Haar der Südländer, leicht gebräunte Haut, einen Mund, der selten sprach, und Augen, die hinter den verzerrten Fratzen der Stadtbürger die dunklen Seiten der Seele zu erkennen vermochten.

      Menschen wie ich waren keine Seltenheit.

      Wie viele Kinder mögen wohl jedes Jahr in den Wäldern fernab der Siedlungen ausgesetzt werden? Zwar war das Ausstoßen von Kindern unter Androhung der Todesstrafe verboten worden, doch wenn ein Vater nicht genügend Korn für das Brot erntete und die Brust der Mutter durch die vielen Kinder bereits ausgezehrt war, wurde das jüngste Kind – das den Winter ohnehin nicht überstanden hätte – nach wie vor auf diese Weise seinem eigenen Schicksal überlassen.

      Nur sehr wenige dieser Kinder überstanden die ersten paar Nächte im Freien. Wenn überhaupt, war das nur in der warmen Jahreszeit möglich, weshalb ich das Licht der Welt wohl im Frühsommer erblickt haben musste.

      Ein Kind konnte nur überleben, wenn sich ein Fremder – meist waren es Reisende – seiner annahm. Der Kaiser hatte ein Gesetz erlassen, demzufolge ein jeder Findling aufgenommen werden musste. Ob es befolgt wurde, konnte jedoch nie wirklich kontrolliert werden, und so appellierte es an jene, die ohnehin Erbarmen mit einem solchen Kind hatten. Diese Findlinge oder Ausgestoßenen, wie man meinesgleichen abwertend nannte, erfuhren nicht viel Liebe, und sobald sie laufen und selbstständig essen konnten, wurden sie fortgeschickt – oft hatten die Familien, die sich ihrer angenommen hatten, nicht einmal genügend Nahrung, um den Sohn eigenen Blutes durchzufüttern.

      Ein Ausgestoßener gehörte dem niedrigsten Stand an, wurde weniger geachtet als Knechte und Diener. Es wurde allgemein auch stillschweigend geduldet, wenn man einen von meiner Herkunft quälte, misshandelte oder gar tötete.

      Die Mädchen und Frauen schlugen sich meist mit Prostitution durch. So kann man annehmen, dass die jüngsten der Huren, die kaum mehr als elf Winter zählten, Ausgestoßene waren. Eine solche Dirne wurde nicht selten gebrandmarkt oder verstümmelt, und verspürte ein Freier den Drang, dem jungen Weib Gewalt anzutun, so musste er nicht fürchten, für diese Tat von den Stadtwachen zur Rechenschaft gezogen zu werden.

      Als Mann erwartete einen ein etwas besseres Schicksal. Blieb man in der Stadt, so war man vor feindlichen Soldaten geschützt und hatte zu essen und einen Schlafplatz, aber da sie nur harte körperliche Arbeit angeboten bekamen, starben viele Männer schon in jungen Jahren.

      Die meisten Ausgestoßenen mieden jedoch die Städte und lebten am Land, in den Wäldern oder arbeiteten auf kleinen Höfen. Auch ich war einer von denen, die nie in einer Stadt gelebt hatten.

      Ein junges Mädchen hatte mich einst als Säugling, keinen Tag war ich alt gewesen, gefunden. Sie hatte in der Nacht zuvor – so erzählte sie mir später – ein totes Kind geboren und war in den Wald gegangen, um es zu begraben. Als sie mich fand, habe sie sofort gewusst, dass ich ein Geschenk der Gottheiten sei.

      Sie gab mir die Brust und kümmerte sich liebevoll um mich. Ich habe kaum Erinnerungen an jene Tage, doch die Nächte waren kalt und manchmal – so schien mir – war ich allein gewesen.

      Das Mädchen musste mich immer wieder verlassen, um in der Stadt zu arbeiten. Ich vermutete, dass auch sie eine Ausgestoßene war – obwohl ich nie eine Brandmarkung an ihr erblickt habe. Während ich durch den Wald streifte und mich auf das Sammeln von Beeren und genießbaren Blättern verstand, folgte sie ihrem vorherbestimmten Schicksal, der Prostitution. Wenn sie genügend Geld zusammengespart hatte, kam sie zu mir in den Wald zurück. Auf geheimnisvolle Weise schien sie immer zu wissen, wo ich war, und wenn ich mich in Gefahr befand, tauchte sie stets aus dem Nichts auf, um mir beizustehen.

      Im Laufe der Zeit wurden ihre Besuche seltener und ich begann mich an das Leben als Einsiedler zu gewöhnen. Ich war inzwischen flink genug, um erfolgreich zu jagen, und ich versuchte mein Wissen über Pflanzen beständig zu erweitern. Oft lag ich unter Schmerzen und Krämpfen halb vergiftet und dem Tod nahe gegen einen Baum gelehnt oder saugte an den Wurzeln seltener Kräuter, die Erbrechen verursachten und mich wieder entgifteten.

      Ich erinnere mich noch gut an jenen Morgen, als die Umrisse einer Gestalt im Nebel langsam deutlicher wurden und sie, die Frau, die mir alles bedeutete, mir eine Mutter war, auf mich zuschritt. Sie führte zwei Pferde an ihren Zügeln mit sich und verkündete, dass wir uns auf eine lange Reise begeben würden. Sie führte uns vom Norden des Westlichen Reichs durch die Wälder bis an die östlichen Grenzen, dort wählten wir einen Weg nach Süden und durchritten viele Städte. Sie wollte mir die Menschen zeigen. Anfangs waren sie mir so fremd und mich ekelte vor den lüsternen Männern, die meiner Ziehmutter grob an die Brüste griffen. Nicht selten schritt ich ein und es kam oft zu Kämpfen, in denen ich immer unterlag. Wie viele Knochen waren mir in jener Zeit gebrochen worden und wie viele Schmerzen musste ich erdulden, doch von Mal zu Mal wurde ich stärker und geschickter. Bald war ich ein ausgezeichneter Kämpfer, und von einem Freier, der sich an meiner Ziehmutter vergreifen wollte, erbeutete ich ein Messer, das ich einzusetzen lernte.

      Je weiter unsere Reise nach Osten und Süden führte, desto öfter trafen wir auf Menschen, die uns freundlich behandelten. In der ersten Zeit waren wir kaum voneinander zu trennen gewesen, doch als wir ein kleines Dorf inmitten des Westlichen Reichs erreichten – es war nahe einem großen See –, wollte sie mich nicht in ihrer Nähe haben, während sie ihren Körper an fremde Männer verkaufte. Es kam auch vor, dass sie vergewaltigt wurde, und aus diesem Grund drängte ich immer darauf, in einem Zimmer nebenan zu sein, um notfalls einschreiten zu können, doch sie winkte ab und trug mir stattdessen auf, Geld als Tagelöhner zu verdienen.

      So kam es, dass ich mir verschiedene handwerkliche Fertigkeiten aneignete: einfache Tischlerarbeiten, Brot backen, Stoffe weben oder Stahl schmieden. Da ich mich als geschickt erwies und den Zimmermeistern sogar beim Zeichnen der Pläne hilfreich war, brachte man mir sogar das Lesen bei.

      Meine Ziehmutter sagte immer, wir würden diese Reise machen, damit ich die Menschen kennenlerne und sehe, wie unterschiedlich sie sind, obwohl sie alle einem Volk entsprangen. Auch war sie sichtlich erfreut darüber, dass ich als Tagelöhner so vieles erlernte. In Wahrheit, so schien mir, hatte sie die Reise jedoch aus einem anderen Grund angetreten. Sie traf sich zunehmend mit Männern – teils von hohem Stand –, und wenn ich für mehrere Wochen an einem Hof oder in einer Werkstatt Arbeit gefunden hatte, ritt sie fort, manchmal in jene Wälder, die von den schrecklichsten aller Kreaturen beherrscht wurden: Arasien, dem Volk des Krieges, das den Menschen und Elfen verhasst war. Ich wollte nicht, dass sie sich dieser Gefahr aussetzte, doch sie versicherte mir, dass es keinen Grund zur Sorge gäbe, denn die Arasien – so brutal und grausam sie auch sein konnten – würden jedem Lebewesen mit Achtung gegenübertreten. Aber es war eine Achtung, die zweifellos mit Hass verbunden war, weshalb es töricht war, sich darauf zu verlassen, dass sie – wie mir meine Ziehmutter versicherte – nicht angriffen, wenn man sich an die Regeln der Höflichkeit hielt und den Arasien waffenlos gegenübertrat.

      Tatsächlich kehrte sie jedes Mal unversehrt aus den Wäldern zurück. Manchmal wirkte sie niedergeschlagen und enttäuscht, doch es kam auch vor, dass sie voller Stolz und Glückseligkeit war, gerade so, als hätte man ihr eben eine Frohbotschaft verkündet.

      Die gemeinsame Reise dauerte zwei Jahre, und als wir wieder zu den Wäldern im Norden des Westlichen Reichs gelangten, trennten sich unsere Wege. Zum Abschied überreichte sie mir ein längliches Bündel, das sie all die Zeit über bei sich getragen hatte. Sie schärfte mir ein, es verborgen zu tragen und fortan die Städte zu meiden. Verwundert öffnete ich das Bündel und erblickte ein prächtiges Schwert, das in einer vergoldeten