Keine Helden - Piraten des Mahlstroms. Nils Krebber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nils Krebber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958692978
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fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.

      »Also gut, spielen wir mit offenen Karten. Unsere Gönnerin ist die Gräfin Estella del Mar selbst, Erbin des Schreckenskapitäns und der Insel von Maracasar. Und sie will nichts weniger erreichen als die Befreiung Maracasars von der Herrschaft des Imperiums. Dafür ist sie bereit, den Schatz des Kapitäns unter uns aufzuteilen. Sie selbst sucht nur ein Zeichen der Legitimation, das sich wohl unter diesem Schatz befindet. Damit will sie die Häuser Maracasars zur Revolution führen und den Namen ihres Vorfahren wieder reinwaschen. Ihr seht, wir haben uns überschaubare Ziele gesetzt.« Er lehnte sich mit einem Seufzen zurück in den Stuhl, der ein weiteres klagendes Knarzen von sich gab.

      Joachim hatte gebannt zugehört. »Eine Erbin des Schreckenskapitäns? Ich wusste nicht, dass seine Linie weitergeführt wurde. Ich dachte, die Inquisition hätte die Familie mit Stumpf und Stiel ausgerottet.«

      Eberhart machte eine wegwerfende Geste. »Die Inquisition ist überbewertet – und Maracasar ist weit vom Kernland des Imperiums entfernt. Und es ist ja nicht so, dass sie Ihre Abstammung weithin publik gemacht hätte. Del Mar ist ja ein Allerweltsname für entthronte Adlige aus den Küstengebieten, deren Ländereien dem Imperium unterstellt wurden. Wahrscheinlich heißt jeder zweite Adlige Maracasars inzwischen del Mar.« Er breitete seine Hände aus. »Jetzt wisst Ihr fast alles über unsere Unternehmung. Was sagt Ihr? Seid Ihr dabei?«

      Joachim klopfte sich mit den Zeigefingern der zusammengelegten Hände auf die Lippen. »Ihr habt da ein wahrhaft interessantes Unterfangen vor Euch. Aber so anregend die Idee auch ist – ich kann das Risiko nicht eingehen. Ich kann Euch nur versichern, dass ich nichts über Euer Vorhaben weitergeben werde.« Er stand auf. »Gehabt Euch wohl, Eberhart Brettschneider. Es war angenehm, Eure Bekanntschaft zu machen.« Er deutete auf die Tür.

      Eberhart stand auf und drehte sich um. Als er schon fast an der Tür stand, zögerte er einen Moment. »Wovor habt Ihr Angst?«, fragte er leise. Er wartete, aber nur Stille antwortete ihm. »Was immer es ist, es wird nicht verschwinden, wenn Ihr Euch versteckt. Glaubt mir – ich weiß, was es heißt, sich vor sich selbst zu verstecken.« Er drehte sich um. »Schaut mich an. Glaubt Ihr, es war einfach, so aufzuwachsen?« Seine Hände fuhren über seinen Körper. »Meine Kindheit war nicht einfach. Es gab Zeiten, da wollte ich einfach nur sterben. Ich blieb tagelang in meinem Zimmer und aus Frust fraß ich immer mehr in mich hinein. Und wurde fetter und fetter. Ich wollte mich zu Tode fressen. Aber irgendwann erkannte ich, dass ich damit niemandem half. Weder mir noch meinen Eltern noch irgendjemand sonst. Ich beschloss, dass ich mich nicht mehr schämen würde für das, was ich bin. Ich würde rausgehen, den Kopf stolz erhoben, und allen zeigen, dass ich mehr bin als der fette Junge aus dem Sägewerk. Und jetzt - seht mich an! Ich ziehe los, den Schatz des Schreckenskapitäns zu heben. Und egal, ob ich ihn finde oder nicht – ich werde es versucht haben. Das kann mir niemand mehr nehmen. Wenn ich Loknar gegenüberstehe und er mich fragt, was ich mit meinem Leben getan habe, dann werde ich mich für nichts schämen.« Er schaute Joachim in die tiefblauen Augen. »Werdet Ihr dasselbe sagen können?«

      Joachim wirkte traurig – unendlich traurig. »Ihr verstehst nicht ... Was ich tue, was ich kann, es ist gegen den Willen der Götter. Ich bezweifle, dass ich jemals Loknar gegenüberstehen werde – und falls doch, wird er keinen Plausch mit mir halten wollen.«

      »Unfug!«, brauste Eberhart auf. »Wisst Ihr, was alles gegen den Willen der Götter ist? Glücksspiel, Unzucht, Liebe zwischen Männern, lesende Frauen, Fleisch zwischen Churuntag und Neumond ... Kein Mensch kann sich an all diese Gebote halten. Und die wenigsten tun es. Es gibt zu viele Götter, um sie alle zu ehren. Ich halte es am liebsten mit den Lehren des Ranald: Wenn du’s kriegen kannst, hat der andere es nicht genug gewollt. DAS ist ein Lehrsatz, mit dem ich arbeiten kann.« Er schritt auf Joachim zu und fasste ihn bei den Schultern. »Kommt schon, Mann. Ein hübscher Bursche wie Ihr, belesen, schlau – die Welt da draußen wartet auf Euch! Was immer Ihr meint, was da Euer Erbe ist – wenn es uns hilft, den Schatz zu bergen, kann es so schlimm nicht sein. Was kann gottgefälliger sein, als dem Schreckenskapitän selbst seine zusammengeplünderte Beute wieder zu entreißen? Hat Laros selbst nicht seine Sturmgeborenen ausgeschickt, um ihn zu besiegen? Seht es mal so – wir vollenden nur sein Werk! Wir sind also quasi im Auftrag der Götter unterwegs!« Eberhart hatte sich selbst in Begeisterung geredet. Er malte mit den Händen gewaltige Bilder in die Luft.

      Joachim lachte laut auf. Es war ein glückliches, befreiendes Lachen, das aus seinem tiefsten Inneren herausbrach. Er nahm Eberhart in die Arme.

      »Ihr seid wunderbar, Eberhart. So eine Begeisterung! So eine Energie.« Er ließ ihn los und schaute ihm in die Augen. »Aber ich kann nicht.«

      Eberhart boxte ihn spielerisch gegen die Schulter. »Ach, Quatsch, was soll schon passieren?«

      Es klopfte an der Tür. Die Oberschwester stand auf der Schwelle. »Es ist Zeit. Ihr müsst jetzt wieder gehen.«

      Eberhart flüsterte er Joachim zu. »Wir holen dich hier raus.«

      Joachim lächelte traurig.

      »Schwester Ursula? Dieser junge Herr hier möchte, dass ich mit ihm Euren Konvent verlasse. Wie steht Ihr dazu?«

      Die Oberschwester schaute mit ihrem strafenden Blick zurück.

      »Ihr seid freiwillig hier, also können wir Euch nicht halten. Aber Ihr wisst ebenso gut wie ich, dass dieser Ort vielleicht Eure letzte Chance ist, dem unsäglichen Erbe zu entsagen, das Euch plagt. Nur die Reinheit dieses Ortes ist frei von den Versuchungen, die Euch einst auf den Pfad der Verdammnis geführt haben.«

      Joachim erwiderte kühl ihren Blick.

      »Das mag so sein, Oberschwester – aber ist das wirklich eine Lösung? Ist dieser Ort wirklich so frei von den Versuchungen, wie Ihr denkt?« Er näherte sich ihr, seine Augen schienen dunkler zu werden. »Ihr werdet nicht jünger. Ihr seid bereit, Eurer Göttin gegenüber zu treten. Noch. Wie bereit werdet Ihr sein, wenn das Alter Euch das Augenlicht nimmt? Oder die Beine? Oder die Kontrolle über Euren Geist?« Ursula richtete sich auf. »Ich werde nicht schwach werden! Churun wird mich gnädig aufnehmen und ich werde mit Freuden in Ihr Reich treten.«

      »Ihr vielleicht. Aber könnt Ihr für die sprechen, die nach Euch kommen? Wie wird Agnetha denken, wenn ihre glatte Haut und ihr jugendlicher Elan vergangen sind? Und ich werde dann noch hier sein. Ich werde warten. Wenn sie sich nach Eurem Rat sehnt oder danach, wieder gerade gehen zu können. Oder wenn sie wieder möchte, dass die anderen Novizinnen ihr hinterher sehen, wie sie es heute tun.«

      Ursula zitterte vor Zorn. Ihre Hand krampfte sich um die Taube auf Ihrer Brust.

      »Irgendwann wird sie zu mir kommen. Und ich werde sie vielleicht ebenso lieb gewonnen haben wie Euch, Ursula, und Ihr ebenso wenig abschlagen können.« Er trat auf sie zu und hob die Hand, um sanft über ihre Wange zu streichen. Ursula wich erst zurück, ließ dann aber die Berührung zu.

      »Ich kann Euch nicht aufhalten, Joachim – aber Ihr macht einen Fehler. Ich weiß nicht, ob ich den Konvent noch einmal überzeugen könnte, Euch aufzunehmen. Und Ihr wisst, wie die anderen Priesterschaften zu Eurem Erbe stehen.«

      Er nahm sie zärtlich in die Arme. Einen Moment lang versteifte sie sich, eine Träne rann über ihre Wange.

      »Ihr habt mir einen sicheren Hafen gegeben, als ich ihn brauchte. Ihr habt mir vertraut, als niemand anders es tat – mich eingeschlossen. Vertraut mir noch ein Mal. Ich glaube, mit diesem Mann zusammen kann ich da draußen etwas wirklich Wichtiges erreichen. Und vielleicht einen Weg finden, mein Erbe für etwas Gutes einzusetzen.«

      Schwester Ursula erwiderte kurz seine Umarmung. Dann hob sie die Hände zum Zeichen der Churun und segnete ihn.

      »Möge die Göttin über deinen Weg wachen. Ich werde dich in meine Gebete einschließen.«

      Joachim verbeugte sich lächelnd und machte sich dann auf, den Raum zu verlassen. Er wandte sich zu Eberhart um, der die beiden mit offenem Mund anstarrte.

      »Kommt Ihr?«

      Der Händler schüttelte sich, als wäre er mit kaltem Wasser überschüttet