Schriften in deutscher Übersetzung. Plotin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Plotin
Издательство: Bookwire
Серия: Philosophische Bibliothek
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783787339341
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es erst als ein ‘anderes’ machen kann, und also an das Gleiche doch ein gewisses unterscheidendes Moment heranträgt, so muß auch in der Natur, wo das ‘andere’ nicht durch Überlegung entsteht sondern nur durch die Formkräfte, mit der Idee ein unterscheidendes Moment verbunden sein; nur wir können diese Unterschiedenheit nicht fassen. Wenn die Zahl der Hervorbringungen eine willkürliche ist, so ist das eine andere Sache; wenn sie aber ihrer Anzahl nach durch Maß bestimmt sind, so muß dies Wieviel bestimmt sein durch die Entwicklung und Entfaltung sämtlicher Formen; dann muß, wenn sie alle erschöpft sind, ein neuer Anfang einsetzen. Denn wie weit sich diese Welt ausdehnen, wieviele Stadien sie in ihrem Lebenslauf durchlaufen soll, das liegt von Urbeginn vorgezeichnet in demjenigen Wesen das die Formkräfte in sich trägt. Müssen wir also auch bei den Tieren, bei denen eine Vielzahl mit einer Geburt hervorgebracht wird, entsprechend viele Formen annehmen? Die in den Samen und Formkräften dann notwendige Unendlichkeit braucht uns nicht zu schrecken; denn all das trägt die Seele in sich; ja auch im Geist (daher auch in der Seele) ist nochmals die Unendlichkeit dieser Dinge, die dort in der Seele an den Tag treten.

       19

      Die Tugenden

      Da ‘das Böse’ hier unten ist und ‘diesen Ort notwendig umwandelt’, die Seele aber das Böse fliehen will, so ‘müssen wir fliehen von hier’. Und was ist das für eine Flucht? ‘Gott gleich zu werden’, heißt es. Und das erreichen wir, ‘wenn wir gerecht und heilig und zugleich einsichtig’ werden, überhaupt wenn wir zur Tugend gelangen. – Wenn wir also ‘gleich werden’ durch Tugend, hat denn das, dem wir gleich werden, auch Tugend? Und was ist es denn für ein ‘Gott’ dem wir gleich werden? Vielleicht einer, von dem man annimmt daß er diese Tugenden in höherem Grade besitzt, also etwa die Weltseele und das Lenkende in ihr, welchem wunderbare Einsicht eignet? Es wäre ja sinnvoll, wenn wir die wir in dieser Welt sind, diesem Gott gleich werden. Nun, erstlich ist es umstritten, ob diesem überhaupt alle Tugenden eignen; so etwa zuchtvoll zu sein oder tapfer, wo ihm doch nichts furchterregend ist, da ja nichts außer ihm ist, und wo nichts Lusterregendes an ihn herantritt, dessen Fehlen etwa die Begierde erregen könnte es zu haben oder zu ergreifen.

      Da ferner dieser Gott nun auch seinerseits vom Trieb nach geistigen Wesenheiten bewegt ist wonach auch unsere Seelen verlangen, so kommt offenbar auch unsere innere Ordnung aus dieser geistigen Welt und die Tugenden. Hat denn also jenes Geistige diese Tugenden? Es ist doch wenigstens von den sogenannten bürgerlichen Tugenden nicht wohl denkbar daß es sie habe, nämlich die Einsicht als Eigenschaft der überlegenden, die Tapferkeit als Eigenschaft der mutartigen Seelenkraft, Selbstbeherrschung, welche in einer gewissen Übereinstimmung, einem Einklang der begehrenden zur vernünftigen besteht, Gerechtigkeit als die rechte ‘Eigentätigkeit’ all dieser zugleich ‘in Bezug auf Herrschaft und Beherrschtwerden’. Vielleicht beruht aber unser Gleichwerden nicht auf den bürgerlichen sondern auf den höheren Tugenden, die desselben Namens sind? Gut, beruhe es auf andern; aber soll es darum überhaupt nicht auf den bürgerlichen beruhen? Nein, daß die Gleichwerdung nicht in irgendeiner Weise auf diesen Tugenden beruhen sollte, sondern nur auf den höheren, wäre unsinnig; nennt doch die Überlieferung solche Männer göttlich, und daß sie in irgendeinem Sinne die Gleichwerdung erreicht haben, muß man in der Tat sagen.

      Doch gleichviel, in beiden Fällen ergibt sich daß jenes Geistige Tugenden hat, auch wenn sie anderer Art sind als die unsrigen. Wenn nun aber jemand zugibt, daß eine Gleichwerdung stattfinden kann auch gegenüber Wesen, von denen unser Verhalten verschieden ist, dann steht auch nichts im Wege, daß wir, auch wenn wir nicht hinsichtlich der Tugenden gleich werden, so doch vermöge unserer Tugenden Einem gleich werden, das keine Tugenden besitzt. Und wie das? Folgendermaßen. Wenn etwas durch Anwesenheit von Wärme warm wird, muß dann notwendig auch das, woher die Wärme stammt, warm werden, und wenn etwas durch Anwesenheit von Feuer warm ist, muß dann notwendig auch das Feuer selbst durch Anwesenheit von Feuer warm werden? Indessen könnte man gegen die erste Analogie einwenden, daß auch im Feuer Wärme ist, nur eine die ihm ureigen; dann ergibt dieser Beweis, wenn er sich an die Analogie hält, nur daß die Tugend für die Seele etwas Nachträgliches, für jene Wesenheit aber, von der die Seele sie vermöge Nachahmung entnimmt, ein Ureignes ist. Gegen den Analogieschluß aus dem Feuer ist jedoch zu sagen daß dann ja Jener Tugend sein muß, während wir doch postulieren daß er größer ist als Tugend. Diese Einwände wären treffend, wenn das woran die Seele teilhat dasselbe wäre wie das wovon sie kommt. Nun aber ist das beides voneinander verschieden. Denn auch das sinnlich wahrnehmbare Haus ist nicht identisch mit dem geistigen, obgleich es ihm ‘gleichgeworden’ ist; an Ordnung und Harmonie nimmt das sinnlich wahrnehmbare Haus teil, und doch ist in dem geistigen Plan nicht Ordnung oder Harmonie oder Ebenmaß. So ist es auch mit der Tugend: wir nehmen an Harmonie und Ordnung und Ausgeglichenheit Anteil von der oberen Welt her, und eben darin besteht die Tugend hier unten; da aber die Dinge der oberen Welt der Ausgeglichenheit, der Ordnung oder der Harmonie nicht bedürfen, so haben sie auch die Tugend nicht nötig und nichtsdestoweniger werden wir ihnen gleich dadurch daß uns Tugend innewohnt.

      Soviel zum Erweise, daß es nicht notwendig deshalb, weil wir durch Tugend ‘gleich werden’, in der oberen Welt Tugend geben muß. Aber wir wollen uns nicht mit der Vergewaltigung durch diesen Beweis begnügen, sondern müssen ihm auch [2]Überzeugungskraft verleihen. Zuerst also wollen wir die Tugenden untersuchen vermöge derer nach unserer Behauptung die Gleichwerdung statthat, damit wir das in seinem Wesen Identische ausfindig machen, welches hier unten bei uns, wo es ein Abbild ist, Tugend ist, dort oben aber, wo es so etwas wie ein Urbild ist, nicht Tugend. Zuvor aber haben wir noch darauf hinzuweisen daß Gleichwerdung eine zwiefache sein kann; die eine erfordert bei beiden gleichen Dingen Identität, sie findet statt bei alle dem was demselben Vorbild gleichermaßen angeglichen ist; wo aber nur das eine dem andern angeglichen ist, dies andere aber das Erste ist welches nicht im Wechselverhältnis zu jenem steht und nicht als sein Gleiches bezeichnet wird, da ist die Gleichwerdung in anderer Weise aufzufassen, da darf man nicht die gleiche Gestalt in beiden verlangen, vielmehr gerade eine andere, wenn anders es sich um die zweite Art der Gleichwerdung handelt. –

      Was ist also nun eigentlich die Tugend, die gesamte und die einzelne? Unser Vorgehen wird klarer wenn wir nach der einzelnen fragen; dann wird auch ohne weiteres ersichtlich werden, was das Gemeinsame ist vermöge dessen sie alle Tugenden sind. Die bürgerlichen Tugenden nun, von denen wir oben schon gelegentlich sprachen, indem sie den Begierden und überhaupt den Affekten Grenze und Maß setzen und das falsche Meinen beseitigen, formen die Menschen wahrhaft und machen sie besser, weil sie allgemein auf der Seite des Besseren stehen, weil sie begrenzt sind und dem Ungemessenen und Unbestimmten entrückt. Sie selbst sind begrenzt sofern sie Maß sind in der Seele als in einer Materie, und so sind sie gleich geworden dem jenseitigen Maß und tragen in sich die Spur des jenseitigen obersten Gutes. Denn das gänzlich Ungemessene ist, da es Materie ist, gänzlich der Gleichwerdung unteilhaftig; nur soweit es an der Form teilhat, nur insoweit kann es jenem Oberen gleich werden, welches seinerseits keine Form hat. In höherem Grade aber hat Teil das Jenem Nahe: die Seele, da sie ihm näher ist als der Körper und verwandter, hat dementsprechend auch mehr Teil an ihm; daher kommt es, weil sie als Gott in Erscheinung tritt, zu der Täuschung, daß sie etwa schon das ganze Wesen Gottes sei. Derart also ist die Gleichwerdung dieser Männer der bürgerlichen Tugend.

      [3]Aber da er darauf hindeutet daß die Gleichwerdung eine andre ist und Sache der höheren Tugend, so müssen wir über diese sprechen; dabei wird auch das Wesen der bürgerlichen Tugend noch klarer werden und was diese höhere Tugend ihrem Wesen nach ist und daß es überhaupt neben der bürgerlichen Tugend noch eine andere gibt. Wenn nämlich Plato sagt daß die Gleichwerdung mit Gott Flucht aus dieser Welt ist, wenn er die Tugenden die im Staat ihre Stelle haben nicht schlechthin als Tugenden gelten läßt sondern ‘bürgerliche’ hinzusetzt, wenn er ferner anderwärts die Tugenden Reinigungen nennt, dann ist klar daß er allen Tugenden einen doppelten Sinn gibt und daß er die Gleichwerdung nicht vermöge der bürgerlichen geschehen läßt.

      In welchem Sinne nun nennen wir die Tugenden Reinigungen, und wieso werden wir gerade durch Reinigung gleich? Nun, da die Seele böse ist, sofern sie mit dem Leibe ‘verquickt’