»Der Einzige, der mich versteht, ist der Junge.«
Meine Mutter entgegnete:
»Ein tolles Vorbild bist du. Nicht, dass er auch noch Künstler wird! Warum malst du nicht die Papayawürfel, am besten kubistisch? Eine Studie über das Unvollständige, das Fragmentarische, die Begrenztheit der finanziellen Mittel einer Familie, deren Ernährer über den Wolken schwebt und sich in den Enttäuschungen seines künstlerischen Temperaments suhlt.«
Papa gab mir die Papaya zurück.
»Du kannst sie essen.«
Aber es ging nicht: Ich stellte den Teller unter das Bett und warf ihn erst in den Müll, als die Fliegen anfingen, ihre Eier in meinen Ohren abzulegen.
Ich wich den Tomaten aus, so gut es ging, und rannte zum Gemüseladen, wo mich die Verkäuferin laut lachend empfing.
»Na, wie waren die Tomaten?! Das waren meine besten, extra für dich, vom Hyatt!«
»Gib diesen Heuchlern keine Munition!«, schimpfte ich.
»Jeder hat das Recht auf Rebellion, selbst die!«
Die Gemüsehändlerin hatte den Aufstand zu ihrem Lebensinhalt und ihrer Einkommensquelle gemacht – ich hatte nie gesehen, dass sie auch nur irgendetwas halbwegs Essbares verkauft hätte. Stattdessen war sie der offizielle Lieferant sämtlicher Revolten der Stadt. Ihre matschigen Tomaten waren berühmt auf dem Paseo de la Reforma, auf dem Zócalo, in der Bucareli, und sogar die Bauern aus San Mateo Atenco hatte sie versorgt, als sie sich gegen die Enteignung ihrer Ländereien wegen des neuen Flughafens zur Wehr setzten.
Das Beste an der Gemüsehändlerin war, dass sie fünf Jahre jünger als Francesca und elf Jahre jünger als ich war. In unserem Alter musste man den Altersunterschied mindestens mit drei multiplizieren. Man könnte einwenden, Francesca habe sich besser gehalten als die Gemüsehändlerin, was logisch war, verglich man die Verschleißerscheinungen eines intellektuellen Lebens mit denen eines zupackenden. Doch das Entscheidende war nicht der Zustand, wir waren schließlich keine Milch im Kühlschrank und auch keine Ochsenkarren aus den dreißiger oder vierziger Jahren. Was zählte, waren die Sehnsüchte und Bedürfnisse, die Francesca der Gemüsehändlerin unterstellte und die sie für viel stärker hielt als ihre eigenen, was sie auch waren, allerdings nur in Francescas Kopf und nicht in der Wirklichkeit. Weil aber auch die Wirklichkeit nicht zählte, wohl aber das, was Francesca sich vorstellte, ging ich davon aus, dass sich durch mein Flirten mit der Gemüsehändlerin auch meine Chancen bei Francesca erhöhten. Und den bombastischen Vorbau der Gemüsehändlerin hatte ich dabei noch gar nicht berücksichtigt! Das Ganze war eine psychologisch-sexuelle Schlacht, bei der sich Freud die Barthaare gesträubt hätten.
Im Gemüseladen hing ein Kalender, auf dem verschiedene Gedenktage und saisonales Gemüse vermerkt waren. März war die Zeit der Ölförderung, der Geburt von Präsident Benito Juárez, von Kürbis und Chayote. Mai war Hauptsaison: Tag der Arbeit, Kreuzfest, Schlacht von Puebla, Tag des Lehrers, Tag des Schülers, Chayote, Kopfsalat, Tomate. Im September Poblano-Paprika, Präsidentenansprache zur Lage der Nation, Niños Héroes und Unabhängigkeit. Im Oktober und November gab es nur wenige besondere Tage, an denen aber mehr Tomaten als sonst verkauft wurden: Tlatelolco, Kolumbus-Tag und Mexikanische Revolution.
Die Gemüsehändlerin streckte ihren pummeligen Arm aus und hielt mir eine Rolle Toilettenpapier hin, damit ich mir die Tomatenreste aus dem Gesicht und den Haaren, vom Hals und von den Armen wischen konnte. Sie lieh mir ein gelbes PRDShirt von der Wahlkampagne 2006. Ich gab ihr das T-Shirt später zurück, nur damit sie es mir bei der nächsten Tomatenattacke wieder leihen konnte. Und weil die Attacken nie aufhörten, glaubten die Leute irgendwann, ich sei PRD-Anhänger. Dann schickte sie einen Jungen los, im nächsten Eckladen eine Literflasche Superior zu kaufen. Der Junge brachte das Bier, die Gemüsehändlerin goss zwei Gläser ein und legte los:
»Na, wo hast du deine Intellektuellen gelassen?«
»Die haben keine Tomaten mehr und sind zu ihren Schmökern zurückgekehrt.«
»Sie fehlen mir auf der Straße … als Kanonenfutter!«
Die Lastwagen unterbrachen unser Gespräch. Sie brachten altes Gemüse aus den teuren Restaurants und Luxushotels in Polanco, aus dem Superama in der Calle Horacio, vom Hipódromo de las Américas, sogar aus einem Gemüseladen im reichen Lomas. Damit sich dort keine Hungerleider herumtrieben und in den Mülltonnen wühlten, schenkten sie das vergammelte Gemüse lieber der Gemüsehändlerin, die es zu sozialen Preisen an die Bedürftigen verkaufte. Zumindest sagte sie das, und in gewisser Weise war es nicht einmal gelogen. Das Kilo Tomaten kostete bei ihr nur ein Prozent des marktüblichen Preises. Zum Preis von einem Kilo bekamen die Revoluzzer hundert. Eine wahrhaft wohltätige Geste, nur etwas anders, als die großzügigen Spender es sich vorstellten – dasselbe Gemüse, das ihre vornehmen Gaumen verschmähten, flog ihnen am Ende um die Ohren.
Wir tranken unser Bier, und beim zweiten Glas kam sie unweigerlich auf Francisco Madero zu sprechen, immer wieder Madero. Nur wegen ihm sei dieses Land vor die Hunde gegangen. Alles wäre anders gekommen, wenn Flores Magón die Revolution angeführt hätte, meinte die Gemüsehändlerin.
»Weißt du, was man machen müsste?«, fragte sie, um die Antwort gleich mitzuliefern: »Man müsste Madero ein paar Kugeln verpassen.«
»Das hat schon einer getan, da hinten, im Palacio de Lecumberri«, klärte ich sie auf.
»Dann eben noch mal! Weißt du, wo er begraben ist?«
Wir schmiedeten Pläne, wie wir Maderos Grab im Denkmal der Revolution am besten schänden könnten. Das Denkmal lag gleich um die Ecke, nur drei Metrostationen entfernt. Neben Madero ruhten dort auch Villa und Carranza, Calles und Lázaro Cárdenas, alle spinnefeind miteinander. Das Einzige, was sie verband, waren ihre Schnurrbärte.
»Dafür ist die Dialektik gut: um Denkmäler zu bauen!«, keifte die Gemüsehändlerin.
Das mit Madero war vor mehr als hundert Jahren, im Februar 1913, aber der Gemüsehändlerin kam es vor wie gestern. Sie lebte in einer Zeit, in der alle nationalen Katastrophen, von Zapatas Ermordung bis zum Wahlbetrug an López Obrador, parallel stattfanden, oder unmittelbar nacheinander, eine Kette von Katastrophen, die einmal um die Erde und weiter bis zum Pluto reichte.
Was meinen Roman betraf oder besser gesagt die Frage, woher Francesca meine Hefte kannte, hatte die Gemüsehändlerin eine andere Theorie als ich. Für sie war Francesca eine CIAAgentin. Ich widersprach ihr, die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass die Wirklichkeit nichts auf Ideologien gab.
»Überleg doch mal«, sagte sie. »Was weißt du über sie? Ist sie geschieden oder Witwe, hat sie Kinder, einen Freund, was hat sie früher getrieben?«
»Ich weiß nur, dass sie Sprachen unterrichtet hat.«
»Siehst du?! Alle Englischlehrer arbeiten für die CIA, das weiß doch jeder. Das kam sogar in einem Film vor. Was glaubst du, wie sie an ihre Wohnung gekommen ist?«
»Über das Losverfahren, wie alle.«
»Keiner ist hier per Los gelandet. Du etwa? Hier ziehen Leute mit Vitamin B ein. Arm, aber mit Beziehungen.«
Auch wenn es heißt, keine Antwort sei auch eine Antwort, hielt ich den Mund. Ich hatte keine Lust, dass es sich herumsprach, wie ich an die Wohnung gekommen war. Normalerweise musste man einen Haufen Papiere ausfüllen und jeden Abend beten: erstens, dass einer der Mieter den Löffel abgab oder senil genug wurde, um im Heim zu landen, und zweitens, dass die Bürokraten aus ihrer tausendjährigen Lethargie erwachten, um das Ganze in die Wege zu leiten. Und zu guter Letzt musste man noch zu den wenigen Glücklichen bei der Auslosung gehören, wobei die Chancen eins zu tausend standen. Das war der übliche Ablauf, aber bis auf das mit den toten Mietern, die aus der Wohnung mussten, um sie für den Nächsten freizumachen, hielt sich nie einer daran.
»Sie ist hier, weil sie eine Mission zu erfüllen hat«,