»Ein gegenständliches Bild«, präzisierte er. »Nichts Avantgardistisches.«
Meine Mutter ging mit keinem Wort auf seinen Vorschlag ein. Zwischen den beiden schwelte ein ewiger Streit wegen eines kubistischen Porträts, das mein Vater während der Verlobungszeit von ihr gemalt und ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Sie hasste das Bild und meinte, dass sie darauf wie ein Clown, ein Monster oder eine fette Wachtel aussah, je nach Tageslaune.
»Ist das denn wirklich nötig?«, insistierte mein Vater.
»Ich will nicht, dass so etwas noch einmal passiert, und dazu müssen wir wissen, was eigentlich passiert ist«, erklärte meine Mutter.
Selbst ein knapp achtjähriger Junge begriff, worum es bei der Sache wirklich ging, der Hund konnte schließlich nicht noch einmal sterben. Meine Schwester, die nur ein Jahr älter war als ich, aber mit dem Tempo einer Papaya reifte, zog mich in die Ecke und sagte:
»Schau dir mal Papas Gesicht an, man könnte denken, sie wollen ihn ausweiden.«
Sein Gesicht hatte die Farbe unserer Bettlaken angenommen, die zwar ziemlich abgenutzt – dank der vielen Liter Chlor, die meine Mama zum Waschen benutzte –, aber immer noch recht weiß waren. Der Schlachter wollte wissen, ob mein Vater Probleme mit dem vielen Blut habe und in Ohnmacht fallen würde. Es sei ein heißer Tag, sie sollten sich besser beeilen, bevor der Hund zu stinken anfing. In feierlichem Ton, mit der kaltblütigen Art, mit der sie Familienstreit zu schlichten pflegte, antwortete meine Mutter:
»Sie können weitermachen.«
Der Schlachter schlitzte den Hund von der Schnauze bis zum Bauch auf. Das Blut lief über ein Foto mit dem Präsidenten Ávila Camacho, der die Arme hob, als würde er überfallen, obwohl er sich wahrscheinlich nur bejubeln ließ. Mama beugte sich vor und nahm die Eingeweide des Hundes unter die Lupe, wie ein etruskischer Hellseher, der die Zukunft sehen will, und sie sah sie, im wahrsten Sinne des Wortes, ist doch die Zukunft immer eine unheilvolle Konsequenz aus der Vergangenheit: Ein endlos langer Nylonstrumpf hatte sich in voller Länge in den Eingeweiden des Hundes verheddert. Es war wie bei dem Satz von Schönberg, nur umgekehrt, was letztlich auf dasselbe hinauslief: Meine Mutter hatte ihre Erklärung gefunden. Papa versuchte sich damit herauszureden, dass der Hund auf der Alameda herumgeschnüffelt und dort alles Mögliche gefressen habe.
»Wer’s glaubt, wird selig«, sagte Mama.
Ich lachte, und mein Vater gab mir eine Ohrfeige. Meine Schwester lachte, und meine Mutter kniff ihr in den Arm. Beide fingen wir an zu weinen. Beim Abendessen hielt es Papa nicht mehr länger aus. Da er keine Ausrede fand, um einen Moment hinauszugehen, ging er einfach so und kehrte nie wieder zurück. Der Schlachter packte den Hundekadaver ein und versprach ihn zu entsorgen. Meine Schwester folgte ihm heimlich und erzählte später, sie habe gesehen, wie er mit dem Tacoverkäufer an der Ecke verhandelt habe. Ich dürfe aber Mama nichts davon erzählen, weil sie den Hund so gern gehabt hätte. Das war Mamas Leben – Hunde gern haben.
Am nächsten Tag machte Mama kein Essen, so traurig war sie. Um sich nichts anmerken zu lassen, ging sie mit uns zum Tacostand. Dies sei der Beginn eines neuen Lebens, erklärte sie Wenn das so sei, hätte sie lieber einen Maiseintopf, sagte meine Schwester. Und ich Enchiladas. Es half alles nichts, die Tacos waren billiger. Als uns der Tacoverkäufer kommen sah, schüttelte er entsetzt den Kopf, als wären wir pervers. Aber so seltsam war das auch wieder nicht: Gab es nicht viele Menschen, die ihre Hühner über alles liebten und sie dann eines Tages – oder, schlimmer noch, an ihrem Geburtstag – mit Chilisoße aßen?
Ich hatte alle möglichen Theorien über den Ursprung meines Romans entwickelt. Ich meine Theorien, warum sich Francesca in den Kopf gesetzt hatte, dass ich einen Roman schrieb. Eine logische Erklärung könnten die lächerlich dünnen, fast schon fiktiven Wände im Haus sein, die das Belauschen der Nachbarn zu einem beliebten Freizeitvergnügen machten. Darüber hinaus schien Francesca aber auch eine talentierte Märchentante zu sein und irgendwelche geheimen Absichten zu verfolgen. Warum sollte sie sonst behaupten, dass ich einen Roman schrieb, wenn ich das überhaupt nicht tat?
Ich besaß ein paar Hefte, in denen ich gelegentlich zeichnete und mir Notizen machte, das schon, vor allem nach Mitternacht, wenn das letzte Bier des Tages meine Kehle erfrischte. Oder das vorletzte. Oder das vorvorletzte. Ich zeichnete und schrieb auf, was mir durch den Kopf ging. Ich zeichnete und schrieb und nickte langsam ein, bis mir der Bleistift aus der Hand glitt und ich ins Bett sackte. Doch zwischen so etwas und dem Verfassen eines Romans liegen Welten, eine gewaltige Kluft, die nur mit viel Willenskraft und Naivität zu überwinden ist.
Was ich aber wirklich gern gewusst hätte, war, wie sie wissen konnte, was in meinem Heft stand, denn sie wusste es, und zwar mit einer geradezu unheimlichen Detailkenntnis, und sie erzählte davon in ihrem Literaturzirkel, als handelte es sich um das neuste Kapitel eines Fortsetzungsromans. Also benutzte ich das Heft, um ihr Nachrichten zu hinterlassen, und unter die Zeichnung eines Hundes, der eine Hündin besteigt, schrieb ich mit meiner krakeligen Schrift: Francesca, ich erwarte Dich morgen Abend um neun Uhr in meiner Wohnung. Ich werde die blaue Pille um halb neun einnehmen, uns bleibt also genug Zeit für das Vorspiel und ein oder zwei Bierchen. Sag Bescheid, wenn Du etwas Stärkeres willst. Einen Tequila vielleicht? Einen Mezcal? Oder lieber einen Whisky? Ich habe einen erstklassigen Whisky aus Tlalnepantla. Zieh was Hübsches an, einen Minirock aus Leder, oder dieses Kleid, das Du getragen hast, als wir das Colegio de San Ildefonso besichtigt haben.
Am nächsten Morgen wartete im Hausflur schon der komplette Literaturzirkel mit gewetzten Messern auf mich. Kaum hatten sie mich erblickt, bewarfen sie mich mit faulen Tomaten aus dem Gemüseladen nebenan und brüllten:
»So schreibt man keinen Roman!«
»Alter Lustmolch!«
»Das ist kein Roman!«
Und ich rief zurück:
»Ich hab’s euch doch gesagt!«
Ein anderes Mal schrieb ich ganze Absätze aus Adornos Ästhetischer Theorie in mein Heft ab, nur um sie noch mehr zur Weißglut zu treiben: Die Forderung vollständiger Verantwortung der Kunstwerke vergrößert die Last ihrer Schuld; darum ist sie zu kontrapunktieren mit der antithetischen nach Unverantwortlichkeit. Diese erinnert ans Ingrediens von Spiel, ohne das Kunst so wenig kann gedacht werden wie Theorie. Feierlicher Ton würde Kunstwerke ebenso zur Lächerlichkeit verurteilen wie die Gebärde von Macht und Herrlichkeit. Vorbehaltlose Preisgabe von Würde kann im Kunstwerk zum Organon seiner Stärke werden. Alle Dämme brachen: Jeder kaufte ein ganzes Kilo Tomaten.
Ich hatte es mir angewöhnt, unangenehme Situationen zu beenden, indem ich Absätze aus der Ästhetischen Theorie vorlas. Auf diese Weise hatte ich schon zahlreiche aufdringliche Anrufer, den einen oder anderen Hausierer, Dutzende von Versicherungsvertretern und einen Typ, der mir ein Luxusbegräbnis andrehen wollte, abgewimmelt. Das Exemplar der Ästhetischen Theorie hatte ich in einer von einer Bankstiftung finanzierten Bibliothek vier Blocks von zu Hause entfernt entdeckt. Ich hatte mir das Buch einfach in die Hose gesteckt, unters Hemd, und dabei ein Gesicht wie ein ambulanter Dialysepatient gemacht. Dieb, der einen Dieb bestiehlt. Die erste Seite trug den Stempel der Philosophischen Fakultät der Autonomen Universität von Mexiko. Dieb, der einen Dieb bestiehlt, der einen Dieb bestiehlt. Auf Seite 40 entdeckte ich zufällig den Satz von Schönberg, der mich an meine Mutter erinnerte: Wer nicht sucht, der findet nicht. Die Ästhetische Theorie hatte zwischen den Erinnerungen von Salvador Novo und denen des Bruders Servando geklemmt, in der Geschichtsabteilung. So etwas hätte weder Schönberg noch Adorno noch Mama gefallen: Wer nicht sucht, der findet trotzdem.
Am dritten Tag, als der Anstand über ihre Wut gesiegt hatte, klopfte Francesca an meine Wohnungstür. Obwohl es draußen sehr heiß war, machte mir der tiefe Ausschnitt ihres Kleides ungewohnte Hoffnung – als könnte man die Schlacht von Puebla gewinnen, ohne