»Darf ich reinkommen?«, fragte sie.
Ich trat zur Seite und stammelte ganz automatisch die Floskel, sie solle sich wie zu Hause fühlen. Vielleicht hätte ich zur Apotheke gehen sollen. Im Kopf machte ich mir eine Notiz: Zur Apotheke gehen.
»Wie wär’s mit einem Bierchen?«
»Etwas anderes wäre mir lieber«, antwortete sie. »Einen Anis. Oder einen Mandellikör.«
»Ich habe nur Bier. Und Wasser.«
»Dann Wasser.«
»Nehmen Sie Platz.«
Während ich ein Glas Wasser holte, machte sie es sich in dem schmalen Sessel vor dem Fernseher bequem, meinem einzigen. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie sie die Wohnung inspizierte und jeweils kurz bei dem Bild an der Wand und dem Regal neben dem Eingang verweilte, wo sich meine Hefte und ein paar Bücher stapelten, darunter kein einziger Roman. Viel mehr gab es nicht zu sehen: den kleinen Esstisch, zwei Kartons, die ich immer noch nicht ausgepackt hatte, und, natürlich, Kakerlaken.
Ich reichte ihr das Glas und lehnte mich an das Tischchen, denn ich konnte mich ja nicht mehr setzen, und beobachtete im Stehen, wie sie einen winzigen Schluck trank. Tatsächlich, und ganz unabhängig von meinen Absichten, war der einzige Ort, wo wir es uns beide hätten bequem machen können, das Bett. Zum Zeichen, dass ich wartete, verschränkte ich die Arme. Sie ließ sich Zeit, als müsste sie erst den Satzbau ihrer Worte überdenken. Endlich machte sie den Mund auf:
»Ich möchte Sie ganz offiziell zu unserem Literaturzirkel einladen.«
Während Francesca wieder an ihrem Wasser nippte, hallte die Melodie in meinem Kopf nach: Ich möch-te Sie ganz of-fiziell zu un-se-rem Li-te-ra-tur-zir-kel ein-la-den. Die Pause davor schien einstudiert, damit der Satz seine volle Wirkung entfalten und ich in Ruhe die Schlussfolgerung ziehen konnte, ihre Einladung sei eine große Ehre. Eine unverdiente Ehre natürlich, und genau darin läge die Macht, die Francesca, sollte ich zusagen, von da an über mich ausüben würde.
»Vielen Dank«, antwortete ich, »aber ich habe kein Interesse. Ich lese keine Romane.«
Das Glas in ihrer Hand begann zu zittern, sie hatte so wenig getrunken, dass es fast überschwappte. Sie richtete den Blick auf das Regal neben der Tür.
»Das sind keine Romane«, beeilte ich mich zu sagen, um von vornherein jedes Missverständnis aus der Welt zu räumen.
Francesca sah mich an, holte tief Luft und ging wieder zum Angriff über.
»Aber Sie schreiben einen Roman, und wenn Sie einen Roman schreiben, müssen Sie lesen, viel lesen.«
»Wie bitte?!«, antwortete und fragte ich gleichzeitig.
»Man muss die literarische Tradition kennen, sonst …«
»Ich schreibe keinen Roman, wie kommen Sie darauf?«
»Lügen Sie mich nicht an, in diesem Haus weiß jeder über alles Bescheid, wir sind eine sehr enge Gemeinschaft.«
»Eine sehr penetrante Gemeinschaft, meinen Sie.«
Sie stieß ein Knurren aus und hielt mir das Glas hin.
»Haben Sie mir etwa verziehen, dass ich Tacoverkäufer war?«, flüchtete ich mich in Sarkasmus. »Kann ein Tacoverkäufer einen Roman schreiben?«
»Wenn er gut zuhören kann, ja. Sie müssen eine Menge interessanter Gespräche gehört haben. Aber vom Zuhören zum Schreiben ist es ein langer Weg, wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen, der Literaturzirkel kann Ihnen von großem Nutzen sein.«
»Vielen Dank, aber ich lese und schreibe keine Romane.«
»Alle machen beim Literaturzirkel mit.«
»Alle bis auf mich.«
»Ihr Vormieter hat auch mitgemacht.«
»Und das war sein Verderben! Glauben Sie, ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist?«
Mein Vormieter hatte mitten in der Lektüre von Carlos Fuentes’ letztem Roman einen Herzinfarkt bekommen und war noch im Hausflur gestorben. Zum Gedenken an ihn hatten sie ein kleines Holzkreuz unter den Briefkästen angebracht, als hätte Carlos Fuentes persönlich ihn mit seinem Sportwagen über den Haufen gefahren.
»Ich weiß, dass unsere Bekanntschaft vom ersten Tag an unter keinem guten Stern stand«, sagte Francesca und beugte sich vor, so dass der Ring in ihrem Ausschnitt in der Luft baumelte und ihr Kleid sich einen Zentimeter mehr nach unten schob. »Der Literaturzirkel ist die Gelegenheit, um das in Ordnung zu bringen.«
Mir kam es vor, als würde der Ring sich drehen, und fürchtete schon, hypnotisiert zu werden.
»Es gibt nichts in Ordnung zu bringen.« Ich richtete den Blick auf ein Stück Himmel, das hinter dem Balkon zu sehen war. »Zwischen uns ist nichts kaputtgegangen.«
»Wie bitte?«
»Keine Sorge, ich bin nicht nachtragend.«
»Das heißt, Sie kommen morgen vorbei? Wir beginnen um zehn. Ich habe schon ein Exemplar von dem Buch für Sie besorgt, das wir gerade lesen. Wir sind erst beim zweiten Kapitel, das holen Sie ruckzuck auf. Und wenn Sie nicht abergläubisch sind, kann ich Ihnen die Leselampe des Vormieters schenken.«
»Vergessen Sie’s, ich komme nicht.«
Sie stand auf und strich sich ein paar imaginäre Krümel vom Kleid.
»Was nicht heißen soll, dass wir nicht Freunde sein können«, fuhr ich fort. »Ich lade Sie auf ein Gläschen in der Eckkneipe ein, dann kann ich nebenbei noch ein paar Pillen in der Apotheke kaufen, die ich vergessen habe. In Ordnung?«
»Sie können keine Romane schreiben, wenn Sie nicht lesen!«, sagte sie entschieden.
»Das trifft sich gut! Zwei Fliegen mit einer Klappe!«
Sie ging, ohne auf meine Einladung zu antworten. Bei meinen Nachforschungen, welches Interesse hinter ihrer Hartnäckigkeit stecken könnte – außer dass sie die komplette Kontrolle über das Haus anstrebte –, stieß ich auf einen etwas kindischen, aber garantiert entscheidenden Grund: In der Buchhandlung, wo sie die Romane für den Literaturzirkel bestellte, bekam sie beim Kauf von einem Dutzend Exemplaren Sonderrabatt.
Gab es zu Hause Streit, brauchte meine Mutter nur zu sagen, Papa habe das Temperament eines Künstlers, und schon hatte sie gewonnen. In Anbetracht des Kontexts und der Stimme, mit der sie das sagte, schien das ein physischer Defekt zu sein. In Wirklichkeit war es eine Beleidigung, der mein Vater nie etwas entgegenzusetzen hatte. Er versuchte es mit Worten, aber seine Taten straften ihn Lügen, und die Beispiele, auf die sich die Diagnose meiner Mutter stützte, wurden immer zahlreicher.
Ein paar Monate bevor er uns verließ, war mein Vater auf die grandiose Idee gekommen, den Fäulnisprozess einer Papaya zu malen. Er hatte ein kleines, schon leicht überreifes Exemplar vom Markt mitgebracht, es halbiert und die beiden Hälften zusammen mit einem Glas Wasser und einer weißen Nelke auf einem Tisch neben seiner Staffelei arrangiert. Er veränderte noch ein paarmal die Position der Frucht und die Neigung der Blume, und als er mit seiner Komposition zufrieden war, warnte er uns:
»Wehe, einer berührt was. Und kommt ja nicht auf die Idee, die Papaya zu essen. Das Bild wird eine Studie über den Verfall, den Niedergang, die Vergänglichkeit des Lebens.«
Bevor die Papaya verfault war und um etwas gegen die von der Komposition faszinierten Fliegen zu unternehmen, schnitt meine Mutter am nächsten Tag, als Papa nicht zu Hause war, die Papaya in kleine Würfel und gab sie meiner Schwester und mir zu essen. Ich brachte die Papaya einfach nicht hinunter, versteckte sie und gab sie später meinem Vater zurück. Als er meine Mutter eine Verräterin schimpfte, sagte sie nur:
»Wenn du eine Papaya verschwenden willst, musst du erst das Geld für zwei haben.«
Das war noch bevor