»Dann werden wir es erfahren. Aber Dr. Norden hat ihr gewiss kein Medikament verschrieben, das ihr schaden könnte. Dass Ihre Mutter sehr krank ist, wissen Sie nun schon, Fräulein Boerden.«
»Ja, ich weiß es. Wäre ich nur früher gekommen, aber Mutter …«, sie unterbrach sich. Was ging es andere an, dass ihre Mutter sie eindringlich gebeten hatte, noch nicht zu kommen.
Hing das mit Reyken zusammen? Was sollte diese unerklärliche Antwort bedeuten, dass sie nicht wüsste, warum er in ihrem Hause wohnte? Saskia hatte einen scharfen Verstand. Man hatte ihr im Reifezeugnis eine überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt, aber in manchen Dingen war ihre Intuition noch stärker als ihre Intelligenz.
Sie hatte Reyken in den wenigen Tagen, die sie im Hause ihrer Mutter weilte, nur selten gesehen und überhaupt nicht mit ihm gesprochen. Irgendetwas lehnte sich von Anfang an in ihr gegen ihn auf. Und das nicht nur, weil er einen despotischen Ton ihrer Mutter gegenüber angeschlagen hatte und sie sich ihm gegenüber fast unterwürfig benahm.
Saskia hatte ihre Mutter gefragt, wer dieser Mann sei. »Er heißt Anatol und ist mein Freund«, hatte ihre Mutter erwidert. In welch einem eigentümlichen Tonfall hatte sie es doch gesagt! Saskia grübelte darüber nach, weil das, was ihre Mutter eben gesagt hatte, nicht zu dieser Antwort passte.
Nun saß sie wieder still da und ließ ihre Gedanken in die Vergangenheit wandern. Erst nach dem Tode von Magnus Boerden hatte sie von ihrer Mutter erfahren, dass er nicht ihr richtiger Vater gewesen sei. An ihre frühe Kindheit hatte sie keinerlei Erinnerung, jene ausgenommen, dass sie in einem warmen südlichen Land gelebt hatte. Ihre Mutter hatte ihr später erzählt, dass dies die Insel Korsika gewesen sei, und dass sie dort Magnus Boerden kennengelernt hätte.
An ihn konnte sich Saskia genau erinnern. Sie hatte ihn abgöttisch geliebt. Er hatte ihr wunderschöne Geschichten erzählt, war mit ihr viel herumgelaufen und hatte ihr alles erklärt, was in der Natur vor sich ging. Sie hatten dann in einem hübschen Haus in den Bergen gelebt, in der genau richtigen Höhenlage, die der zarten Gesundheit ihrer Mutter am zuträglichsten war.
Und dort war es dann geschehen, dass er von einer Fahrt in die nahe Stadt nicht zurückgekommen war.
»Ich möchte gerne mitfahren, Papi«, hatte Saskia gebeten.
Aber er hatte erwidert, dass er etwas ganz Dringendes zu erledigen hätte und sie sich bestimmt langweilen würde, wenn sie warten müsste.
Und später hatte ihnen dann niemand erklären können, warum ihn im Wald eine Kugel getroffen hatte, angeblich eine verirrte Kugel, da dort gejagt wurde. Es war Herbst gewesen. Ganz genau konnte sich Saskia an diesen Tag erinnern.
»Sie haben ihn dorthin gelockt, sie haben ihn umgebracht«, hatte ihre Mutter den Männern entgegengeschrien, die die Nachricht brachten.
»Papi wollte in die Stadt«, hatte sie gesagt, die kleine Saskia, für die eine Welt zusammengestürzt war.
Damals hatte sie Papi und Mami gesagt, dann, als sie keinen Papi mehr hatte, sagte sie Mutter. Ganz von sich aus. Evelyn hatte nie gefragt warum.
Ein eigenartiges Kind war Saskia immer gewesen. Scheu und abweisend benahm sie sich auch, als eines Tages ein junger Mann kam, von dem ihre Mutter sagte, er sei der Sohn von Magnus. Sie hatte nicht glauben wollen, dass ihr Papi noch einen großen Sohn hatte. Sie hatte diesen Gedanken von sich gewiesen, sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Er war wieder abgereist, und die Mutter hatte nie von ihm gesprochen.
Jetzt dachte Saskia auch daran. Cornelius hatte der Sohn geheißen. Aber wie alles andere auch, was geschehen war, blieb es ihr auch unbegreiflich, dass er der Sohn ihres geliebten Papis gewesen sein sollte.
»Ich werde es dir erklären, wenn du größer und verständiger geworden bist«, hatte ihre Mutter gesagt, aber dazu war es nie gekommen. Saskia hatte es nicht wissen wollen. Es war schmerzlich genug zu wissen, dass ein anderer ihr Vater gewesen war und Magnus Boerden einen richtigen Sohn hatte.
Wer war nun Dr. Camphausen? Auch diesen Namen hatte sie nie gehört. Sie zermarterte sich den Kopf über all diese geheimnisvollen Fragen und Geschehnisse. Sie fand doch keine Antwort.
*
»Hat’s geschmeckt?«, fragte Lenchen.
»Gut, wie immer«, erwiderte Fee lobend.
»Und jetzt sollte man ein Stündchen ruhen, wenn man schon in der Nacht herausgeholt wird«, sagte Lenchen besorgt.
Daran war gar nicht zu denken. Daniel musste gleich Hausbesuche machen und Fee wollte zur Behnisch-Klinik fahren.
Aber sie musste ihren Mann vorher noch etwas fragen. »Da war heute eine Frau Anatol bei dir. Sie wollte ein Rezept.«
»Ja, sie war auf der Durchreise. Hatte Migräne. Ist sie dir aufgefallen, Fee?«
»Man kann sie nicht übersehen. Mich berührte ihr Name seltsam, denn heute vormittag habe ich von Herrn Pichler erfahren, dass van Reyken mit Vornamen Anatol heißt.«
»Seltsamer Zufall«, sagte Daniel.
»Ich frage mich, ob es ein Zufall ist«, sagte Fee.
»Kleines, halt die Fantasie im Zaum«, meinte Daniel nachsichtig. »Sie wollte nur das Rezept. Sie hat keine Fragen gestellt. Außer ihrer Erscheinung war nichts Auffälliges an ihr.«
»Ich finde es dennoch merkwürdig.«
»Woher weiß denn Pichler, dass van Reyken Anatol heißt?«, fragte Daniel, der ein paar Sekunden überlegt hatte.
»Er hat für einen anderen Klienten Auskünfte über ihn eingezogen. Für wen und welcher Art wollte er natürlich nicht verraten. Ich bin gespannt, was er mit erzählen wird.«
»Da bin ich auch gespannt«, sagte Daniel. »Aber nichtsdestotrotz muss ich jetzt meine Besuche machen. Pass schön auf dich auf, mein Liebes.« Fee bekam einen zärtlichen Kuss, und fort war er.
Sie überließ sich noch eine Viertelstunde ihren Gedanken, aber zu einem Ergebnis kam sie auch nicht. Nun fürchtete sie, dass Herr Pichler kommen würde, während sie aus dem Hause war. Sie rief in seinem Büro an, erfuhr von der Sekretärin aber, dass beide Herren unterwegs wären. Sie tröstete sich dann mit dem Gedanken, dass Herr Pichler nicht erwarten würde, dass eine Ärztin ständig daheim sein würde und fuhr in die Klinik.
Es war ihr eine Beruhigung zu erfahren, dass Saskia noch immer hier sei. Dr. Behnisch sagte ihr, dass Evelyn Boerden zeitweise kurz bei Bewusstsein wäre, sich ihr Zustand aber nicht gebessert hätte. Sie sah ihm an, dass er dies auch nicht mehr erwartete.
Leise betrat sie dann das Krankenzimmer.
Saskias Augen leuchteten kurz auf, als sie ihre Hand nahm.
»Ich hätte Sie gern gesprochen, Saskia«, sagte sie leise. »Würden Sie bitte mit nach draußen kommen?«
»Mutter hört uns nicht«, sagte Saskia.
Aber dann stand sie doch auf und folgte Fee in das Wartezimmer.
Irgendwie kam es Fee doch vermessen vor, sich in die so privaten Angelegenheiten der Boerdens einzumischen, aber aus Sorge um dieses junge Mädchen tat sie es dann doch.
»Mir bereitet der Gedanke Sorge, dass Sie mit diesem Mann eventuell allein in dem Hause wären, Saskia«, begann sie. »Haben sie hier gar keine Freunde, die Ihnen dort einige Tage Gesellschaft leisten könnten?«
»Nein. Ich möchte das auch nicht. Van Reyken hat in dem Haus nichts zu suchen. Wenn ich nur wüsste, wie ich ihn hinausbekomme. Meine Mutter hat mir vorhin gesagt, dass sie nicht weiß, warum er dort wohnt. Ja, es klingt eigenartig, aber ich glaube, dass sie so denkt, wie sie spricht. Es ist alles so undurchschaubar. Und dann das mit den Tabletten.«
Fee lauschte interessiert. »Das werden wir von meinem Mann genau erfahren, aber vielleicht hat sie falsche Tabletten genommen?«
»Und wer hätte die ihr wohl gegeben?«, fragte Saskia.
Nun,